A Fallen Star - Kapitel 2

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Einige Wochen später, Weihnachten ist schon wieder vorbei, alle Geschenke sind ausgepackt und die Weihnachtsdeko wieder in Kisten auf dem Dachboden verstaut, bekomme ich erneut mit, wie schlimm es um Tobi steht. Eigentlich wollte ich mich gerade auf den Weg zu Marc in meine Physiotherapie machen und sitze im Auto. Wie üblich höre ich dabei Radio. Ich will gerade den Motor anlassen, als sein Name fällt: Mac.
Einer der Moderatoren lacht gerade, während ein anderer meint: „Naja, der Junge ist noch jung, er wäre nicht der Erste, dem der Ruhm zu Kopf steigt. Man kann nur hoffen, dass er nicht nur auf seinen Manager hört, sondern dass da immer noch eine Mutter ist, die ihm eine Tracht Prügel verabreicht, wenn sie das hier mitbekommt. Aber jetzt kommen wir zu einer gestandenen Größe des Business: Viel Spaß mit Taylor Swift und ihrem herrlich selbstironischen Hit Blank Space!"
Den Song höre ich schon gar nicht mehr. Hektisch krame ich nach meinem Handy und stelle das Radio aus, damit mich nichts ablenkt. Mit zitternden Fingern gebe ich in meiner Suchmaschine seinen Namen ein und lasse mir nur die Schlagzeilen anzeigen. Innerhalb kürzester Zeit ploppen sie nacheinander vor meinen Augen auf: Newcomer rennt im Suff durch Glasscheibe. Neue Rock Hoffnung Mac wird nach Unfall in Krankenhaus eingeliefert. Vorband von Bon Jovi muss einige Termine absagen, da der Frontman alkoholisiert durch eine Scheibe spazierte.
Mir steigen Tränen in die Augen. Ich entnehme den Artikeln, dass Tobi wohl nach einem Konzert mit seinen Leuten noch in eine Bar gegangen ist und dort viel zu tief ins Glas geschaut hat. Anscheinend hat er sich mit einem Kellner gestritten, der ihm keinen Alkohol mehr ausschenken wollte und ist dann wutentbrannt hinausgestürmt. Dabei hat er es irgendwie geschafft, gegen eine Glasscheibe zu laufen, die den Raum abtrennte, welche in tausend Scherben zersprang. Er und einige der umsitzenden Gäste wurden daraufhin wohl mit kleineren Verletzungen durch die herumfliegenden Splitter ins Krankenhaus gebracht. Keiner von ihnen hat wirklich ernsthaftere Verletzungen davongetragen, alle hatten Glück im Unglück.
Aber nun zerreißt sich alle Welt das Maul über Tobi. Selbst wenn man ihn vorher noch nicht aufgrund seiner Musik kannte, so ist er jetzt der besoffene Musiker, der durch Glasscheiben rennt. Und wie in einem Artikel ausgeführt wird, ist das wohl auch nicht Tobi's einzige Verfehlung in jüngster Zeit. Bereits häufiger hat er Paparazzi tätlich angegriffen, die ihm zu nahe kamen und zu sehr bedrängten. Dass er alkoholisiert durch die Öffentlichkeit rennt, scheint bereits die Regel zu sein. Und dass er Fremde wie auch das Team um ihn herum wüst beschimpft, keine Seltenheit mehr.
Ich schmeiße mein Smartphone zurück auf den Beifahrersitz, lehne meinen Kopf gegen die Kopfstütze und muss mit aller Macht verhindern, dass die Tränen, die mir bereits in die Augen gestiegen sind, zu fließen beginnen. Es ist ein schreckliches Gefühl zu wissen, wie schlecht es Tobi geht. Ich weiß nicht, ob unsere Trennung oder sein neues hektisches Leben der Grund ist, aber es ist auch egal. Ich weiß, dass er leidet. Tobi hat nie viel von Alkohol gehalten und dass er jetzt ständig betrunken ist, heißt für mich nur, dass er damit versucht, etwas wirklich Schlimmes zu verdrängen.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Eine wirklich laute Stimme in mir fordert, Tobi anzurufen. Und wenn er mich wegdrückt zur Not über Ella oder Jas Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ich muss seine Stimme hören. Ich muss wissen, was ihm derart zu schaffen macht. Ich möchte ihm helfen und mit ihm gemeinsam eine Lösung finden. Aber die Vernunft in mir hält mich davon ab. Ich bin nicht so naiv zu glauben, ich sei nicht Teil seines aktuellen Problems. Und vermutlich bin ich die Letzte, die er jetzt gerne sprechen würde. Außerdem haben wir nun schon so lange durchgehalten. Es würde unserer Trennung nicht bekommen, wenn ich jetzt wieder den Kontakt suche. Und ganz ehrlich, so schrecklich ich mich nach wie vor fühle, es ist nicht mehr so schlimm wie zu Beginn. Ich wache nicht mehr jede Nacht schweißgebadet aus Albträumen auf und kann wieder ein wenig nach vorne sehen und meine Zukunft planen.
Zwei Gründe dafür sind definitiv Meg und Jonny. Sie sind nun schon so eine lange Zeit für mich da und holen mich immer wieder aus meinem Schneckenhaus. Jonny war der Erste, der mir wieder ein Lächeln entlocken konnte, und Meg hat mir endlich wieder einen halbwegs normalen Alltag aufgezwungen. Meine Arbeit und meine Aufgaben dort tun mir gut. Und die Wochenenden verbringe ich mittlerweile fast alle mit meiner Familie. Entweder wir treffen uns alle bei Mum und Dad oder ich besuche Rob und seine Familie. Hin und wieder gehen Rob und Cassie aus und ich habe die Kinder. Wenn ich mit ihnen tobe und spiele ist immer für einen kurzen Moment alles in Ordnung. Kinderherzen kennen den Schmerz nicht, den ich verspüre, und deshalb kann auch ich ihn für diese wertvollen Augenblicke vergessen.
Eine weitere Konstante, die mir jeden Tag zeigt, dass das Leben auch aus schönen Dingen besteht, ist mittlerweile Marc. Und zwar nicht nur als mein Physiotherapeut. Obwohl ich hier wirklich große Fortschritte mache. Es ist kaum zu glauben, aber wenn ich mich auf Marc stütze, schaffe ich tatsächlich ein paar kleine und unsichere Schritte. Als Marc mich das erste Mal dazu aufgefordert hat, haben mir vor Angst beinahe die Knie geschlottert. Was ein ulkiger Vergleich ist, wenn man bedenkt, dass ich kurze Zeit darauf und unter seinem guten Zureden meinen ersten Schritt seit vielen Jahren gemacht habe. Weinend vor Glück bin ich ihm um den Hals gefallen und auch Marc schien wirklich ergriffen von diesem Moment zu sein.
Marc ist inzwischen mehr. Habe ich ihn am Anfang noch als maximal einen guten Bekannten eingestuft, mit dem ich mich hin und wieder auch privat traf, so ist er jetzt einer meiner engsten Vertrauten. Als ich nach der Trennung circa zwei Wochen nicht zu ihm gekommen bin und mich auch nicht gemeldet habe, ist er schließlich vor meiner Haustüre gestanden. Ich hatte gerade wieder einen Zusammenbruch und niemand außer mir war im Haus. Da ich ihm auf sein Sturmgeklingel nicht öffnete, ist auch er wie damals Jonny ums Haus und durch ein Fenster eingestiegen – ich sollte mein Haus vermutlich einbruchssicherer gestalten. Er hat mich als Häufchen Elend in meinem Bett im Schlafzimmer gefunden. Er hat keine Fragen gestellt, sondern hat sich einfach zu mir ins Bett gelegt und mich gehalten bis ich mich beruhigt hatte.
Als ich endlich soweit war, habe ich ihm stockend grob die Geschehnisse zusammengefasst und auch dann hat er keinen Kommentar dazu abgegeben. Er hat die Informationen aufgenommen und ist dann in die Küche verschwunden, um uns Tee zu kochen. Nachdem unsere Tassen leer waren, hat er nur einen einzigen Satz von sich gegeben: „Elena, egal wie schlimm gerade alles für dich ist, lass nicht all die harte Arbeit der vielen letzten Monate umsonst gewesen sein, indem du dich jetzt in ein Loch verkriechst und deine Übungen vernachlässigst."
Und dann haben wir in stillem Einvernehmen meine Therapie jetzt und sofort wieder aufgenommen. Auch die nächsten Tage hat er mich immer wieder zuhause besucht und mit mir gearbeitet, als ich nicht die Kraft fand, zu ihm in die Praxis zu kommen. Und wir haben nicht nur die Übungen gemacht, sondern auch viel geredet. Über dies und das, mal belangloses, mal Politik, mal Boulevard. Hin und wieder hatte er etwas zu essen dabei und zwei Mal blieb er sogar über Nacht, als es mir besonders schlecht ging.
Aber in all der Zeit sprachen wir nie über Tobi und mich. Und es tat so unendlich gut. Jonny und selbst Meg verband ich immer mit Erinnerungen an Tobi. Beide konnten natürlich nichts dafür, aber so war es nunmal. Aber Marc gehörte nicht zu meinem Leben mit Tobi bis auf ein paar Bemerkungen, die jetzt aus einem anderen Leben zu stammen scheinen. Und genau das war das Schöne an meiner Zeit mit Marc: sie war unkompliziert. Marc war unkompliziert. Und nach meinem komplizierten letzten halben Jahr war er alles, was ich wollte, und alles, was ich brauchte.
Und so sind wir langsam erst Freunde und dann enge Vertraute geworden. Ich freute mich, als er das erste Mal einfach so bei mir vorbeikam und Pizza mitbrachte, obwohl ich wieder zu ihm in die Praxis für meine Therapie Einheiten fuhr. Irgendwann blieb er sogar die Nacht über bei mir, obwohl ich nicht mehr ständig Albträume hatte. Es war einfach. Es war unschuldig. Es war schön. Und damit wurde Marc fester Bestandteil meines Lebens.
Ich würde nicht behaupten, dass wir zusammen sind. Wir führen keine Beziehung und ich versuche damit auch nicht, Tobi zu ersetzen. Niemand könnte Tobi ersetzen oder mir das schenken, was nur er vermochte. Ich glaube hin und wieder, dass Marc es gerne so hätte und uns beiden gerne diesen Stempel aufdrücken würde. Aber er drängt mich nicht, er spricht mich nicht einmal darauf an. Er lässt mir Raum. Und ich nutze diesen Raum aus, indem ich vielleicht auch ihn benutze und mir von ihm nehme, was ich brauche, ihm aber nicht gebe, was er will. Es ist egoistisch, aber Egoismus gehört aktuell zu meinen geringsten Sorgen. Er tut mir gut. Er bringt mich zurück ins Leben. Und das ist alles, was ich aktuell brauche. Und ob es irgendwann mehr ist oder wir uns anders bezeichnen, ist im Moment für mich nicht von Belang. Was wirklich zählt, ist jeden Morgen die Kraft zu finden, aus dem Bett zu steigen und meinen Tag zu starten. Und dafür ist Marc einfach eine unverzichtbare Quelle.
Ich atme einmal tief durch und drehe dann den Autoschlüssel im Zündschloss um. Ja, es ist schrecklich, was ich gerade im Radio gehört habe. Aber ich muss es anderen überlassen, Tobi zu helfen. Ich muss jetzt in erster Linie mir selbst helfen. Und das bedeutet, zu Marc zu fahren. Mich auf meine Übungen zu konzentrieren. Und mich von Marc ablenken zu lassen. Mit diesen Gedanken lenke ich meinen Wagen aus dem Hof und biege auf den Highway Richtung Marc's Praxis ein.
Dort angekommen empfängt mich Marc mit dem mir inzwischen so vertrauten Lächeln. „Na, wie geht's meiner Lieblingspatientin?"
„Ach komm, so viel Zeit wie du mir widmest, kannst du neben mir gar keine Patienten mehr haben, die dir lieber sein könnten als ich", antworte ich grinsend, während ich ins Zimmer rolle.
„Ich spekuliere ja immer noch, dass du mich irgendwann finanziell aushältst, schließlich bist du die reiche Chefin der Buchhaltung. Ich würde mich dann auch um den Haushalt kümmern."
„Pff, da stelle ich mir eine Haushaltshilfe ein, die ist billiger als dich mit deinen ganzen ernährungstechnischen Sonderwünschen durchzufüttern", lehne ich das Angebot lachend ab. Ich verschwende einen kurzen Gedanken daran, ob ich mir vielleicht tatsächlich eine Haushaltshilfe holen sollte. Nachdem meine ursprüngliche Chefin das Unternehmen verlassen hat, habe ich ihren Posten – auch wegen der harten Arbeit, die ich nach der Trennung investiert habe – bekommen und könnte mir so eine Unterstützung tatsächlich ganz einfach leisten. Dann würde allerdings auch ein wichtiger Teil meiner selbst auferlegten Beschäftigungstherapie wegfallen und ich verwerfe den Gedanken wieder.
Stattdessen fahre ich fort: „Außerdem habe ich nicht vor, noch lange deine Dienste als Therapeut in Anspruch zu nehmen. Dann hast du wieder Zeit für andere Patienten und kannst dir dein Leben wieder selbst finanzieren."
„Vermutlich hast du damit recht", meint Marc lediglich und sieht fast ein wenig finster drein, ehe er sich wieder zusammenreißt und sich ein Lächeln aufs Gesicht zwingt. „Aber damit du soweit kommst, müssen wir uns heute ranhalten. Also auf auf!" Damit scheucht Marc mich zu den Geräten. Ich ignoriere sein kurzes Stimmungstief. Ich weiß, was ihn kurz innehalten hat lassen: Er hat Angst, dass sich zwischen uns beiden etwas verändert, wenn ich ihn nicht mehr regelmäßig wegen meiner Therapie sehe. Marc will mehr von mir und ich weiß nicht, was ich will. Deshalb kann ich ihm auch jetzt nicht seine Sorgen nehmen, weil ich tatsächlich keine Ahnung habe, ob wir uns noch genauso oft sehen werden. Ich meine, ich genieße aktuell jede Sekunde mit ihm. Ich mag ihn. Sehr sogar. Aber weiter als einen ganzen Tag in die Zukunft zu planen schaffe ich aktuell nicht. Mit Tobi habe ich zu viel geplant und mich auf zu viel gefreut. Und dann ist nichts davon in Erfüllung gegangen. Diese Enttäuschung halte ich nicht noch einmal aus.
Darüber grüble ich, während ich fleißig mache, was Marc mir aufträgt. Irgendwann lässt er mich auf einen Stuhl setzen und kniet sich vor mich hin. „Elena, ich glaube wirklich, du bist so weit: Wir gehen in die finale Phase über."
„Und das bedeutet?", hake ich irgendwie ein wenig nervös nach. Ich habe so lange und hart gearbeitet, um mein Ziel zu erreichen. Jetzt meint Marc, dass ich auf der Zielgeraden bin. Aber ich habe Angst, dass er sich vielleicht verschätzt und mich überschätzt und ich am Ende auf der Schnauze liege. So kurz vorm Ziel.
„Das bedeutet, dass wir beide jetzt deinen Badeanzug holen und wir dann schwimmen gehen", klärt Tobi mich auf.
„Schwimmen gehen?", wiederhole ich verdutzt seine Worte.
„Jep, schwimmen gehen. Und wenn du diese Prüfung bestehst, dann bekommst du Krücken von mir und ich will, dass du die meiste Zeit des Tages auf Krücken rumläufst anstatt dich in deinem Rollstuhl fortzubewegen."
„Ich soll wieder laufen?", keuche ich atemlos.
„Ja, Elena, du sollst wieder laufen. Darauf haben wir doch hingearbeitet."
„Aber was ist, wenn es nicht klappt?"
„Dann stehe ich direkt neben dir." Marc sieht mit einer derart großen Portion Vertrauen zu mir auf, dass ich gar nicht anders kann, als ebenfalls daran zu glauben. Und plötzlich durchströmt mich eine solche Ladung Glück, von der ich dachte, es nach Tobi nie wieder zu fühlen.

Zwischen 2 Welten - Elena und TobiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt