Kapitel 2

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„Frische Äpfel! Kommt her, kommt her! Frische Äpfel! Hier findet ihr das beste Obst aus ganz Volantis!", rief ein Händler durch die Straßen des riesigen Marktplatzes. Er stand ganz oben auf den Stufen eines kleinen Podestes und hielt einen prächtigen Apfel in die Luft.

Durch das laute Geschwätz der vielen Menschen auf dem Marktplatz konnte man sein eigenes Wort fast nicht mehr hören. Auch wenn sie die Stille ihrer Hütte im Wald bevorzugte, weit weg von all diesem Getümmel der Stadt, liebte Quaithery ihren morgendlichen Gang zum Marktplatz. Sie griff mit der rechten Hand nach ihrem Korb, geflochten aus Weidenstöcken, den sie in ihrer linken Armbeuge trug. Das Stück Papier mit den Zutaten, die sie besorgen wollte, flatterte in ihrer Hand. Nachdenklich studierte sie die Liste, aber ihre Aufmerksamkeit wurde durch das laute Rufen des Händlers auf die Äpfel gelenkt.

Sie sah hoch auf das Podest und plötzlich hörte sie ein Babygeschrei in der Nähe. Sie sah den Apfel in der Hand des Händlers hoch oben in der Luft an und erstarrte.

Ein Mann schubste sie versehentlich auf die Seite und Quaithery beobachtete ihn. Sie betrachtete, wie sich sein Mund bewegte, aber sie hörte nur die flehenden Laute des Kindes. Quaithery sah sich auf einmal panisch um, damit sie das Geschrei besser orten konnte. Sie ließ ihren Korb fallen und wanderte schnellen Schrittes durch jene Gassen, in denen sie das Brüllen immer lauter wahrnahm.

Die Gassen waren viel zu voll, um etwas zu erkennen. Also verließ sich Quaithery nur auf ihren Hörsinn. Sie blendete alles andere aus – sie wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hat.Ihre Suche führte sie weit weg von dem Marktplatz, aber dennoch kam ihr alles so vertraut vor.

Als das Babygeschrei so laut war, dass sie dachte, es müsse direkt vor ihr sein, blieb sie stehen.Sie reckte ihren Kopf hin und her, in der Hoffnung, etwas entdecken zu können.Doch alles, was sie plötzlich sah, war der große Palast des Lords Mellarys.

Ihr wurde klar, dass sie eindeutig an jenem Ort stand, wo sie damals Visenya abgegeben hatte. Eine lange Zeit war verstrichen, aber Quaithery erinnerte sich noch genau an diesen Tag.

Sie schaute enttäuscht auf die Steine des Weges. Das Geschrei war erloschen. Hier war nichts, was einem Baby gleichen konnte.Aus der Ferne nahm sie unverhofft das Gekreische von Vögeln wahr. Quaithery sah in den Himmel und erblickte eben diese Wesen über ihr hinwegfliegen.Sie betrachtete den Himmel noch eine Weile, als sich schlagartig alles veränderte. Sie hatte wieder eine Vision.

Die Ruinen von Valyria sahen in dieser Vision noch genauso aus, wie in einer bereits gesehenen Vision. Quaithery sah sich um und vernahm urplötzlich einen Laut eines Neugeborenen. Es war wie ein Lachen, ganz anders als sie es zuvor in den Gassen erlebte. Instinktiv schaute sie auf ihre Hände und sah, dass sie ein Kind in eben diesen hielt. Quaithery atmete hastig, fast schon panisch. Das alles kannte sie doch schon, was hatte es nur zu bedeuten? Sie drehte sich umher, in der Hoffnung, das Bildnis noch klarer erkennen zu können.

Augenblicklich stand eine junge Frau mit langen, blonden Haaren vor ihr, die Quaithery zuversichtlich anschaute. Diese Frau hatte sie zuvor in dieser Vision noch nie gesehen – wer mochte sie bloß sein?

Die vielen Fragen in Quaitherys Kopf brachten sie dazu, dass sie ihre Augen schließen wollte, um nachzudenken. Als sie diese wieder öffnete, stand sie auf dem steinernen Weg und erblickte erneut den Palast. Ihr war klar, dass die Vision nun ihr Ende gefunden hatte und sie war verblüfft darüber, dass sich dieselbe Vision verändern konnte. Quaithery war verwirrt und fragte sich, ob Visionen sich wirklich verändern können, oder aber ob sie nur das wahre Ende niemals zuvor sehen konnte.

Die blonde Frau kreiste immer noch in Quaitherys Gedanken, als der Weg sie wieder zu den Gassen des Marktplatzes führte – sie musste herausfinden, wer das war. Entschlossen machte sich Quaithery wieder auf die Reise nach Valyria, an eben jenen Ort, wo sie Visenya gebar. Als sie dort angekommen war, fühlte sie ein gewisses Unbehagen. Was würde sie dieses Mal erwarten? Quaithery schaute sich um und blitzartig lief ihr die eisige Kälte den Rücken hinunter, als sie ein lautes Geschrei hörte.

Da lag sie auf dem Boden, mitten in den Ruinen neben einem sichtlich zerstörten Wehrholzbaum. Es war die blonde Frau aus Quaitherys Vision. Sie lag in den Wehen und schrie hilflos umher. Hinter ihr ruhte ein goldener Drache, welcher sich mit jedem Schrei der jungen Frau vor Schmerzen krümmte, als würde er fühlen, was sie fühlt.

Unverzüglich eilte Quaithery zu ihr und bot ihr ihre Hilfe an. Die junge Frau war deutlich erleichtert. Quaitherys Blick klebte am goldenen Drachen, sie musste augenblicklich an Visenyas Geburt und an den Drachen von damals in den Ruinen denken. Die Geburt verlief schnell und ohne ersichtliche Schäden, trotz dass dies mitten im Nirgendwo, weit weg von jeglicher Zivilisation, passierte. Als die beiden Frauen das Babygeschrei wahrnahmen, wickelte die Fremde ihr Neugeborenes in ein Tuch ein. Sie schaute Quaithery mit flehenden Augen an und bat sie, das Kind mit sich zu nehmen. Sie kann sich nicht um jenes kümmern, es würde zu viel Ärger mit sich bringen - man würde die Kleine gar töten.

Quaithery nahm das Baby sofort in ihre Arme, als wüsste sie umgehend, was getan werden müsse. Sie schaute es eine Weile an und sah, dass das Kind tief grau-blaue Augen hatte. Sie zuckte verwundert, denn in ihrer vorherigen Vision hatte das Neugeborene strahlend violette Augen.

Quaithery stand auf und fragte die junge Frau, wer sie sei. „Ich bin Rhaenyra Targaryen. Niemand soll davon erfahren.", sprach sie mit zitternder Stimme und kämpfte sich hoch, sodass sie sicher auf ihren Füßen stand. Quaithery blickte sie zustimmend an und drehte sich dann um, damit sie ihre erneute Reise fortsetzen konnte. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Rhaenyra schaute ihr nach. „Wie soll sie heißen?", lauteten die Worte der Schattenbinderin, als sie ihren Kopf zur Seite neigte. „Sie soll den Namen Daenyra tragen. Das ist das Einzige, was ich ihr auf ihrem Weg mitgeben kann.", erwiderte die erschöpfte Fremde. „Daenyra..... so soll es sein." Quaithery streichelte dem Neugeborenen sanft über das Gesicht und nickte anerkennend.

Das laute Gelächter der Männer auf dem Schiff brachte Quaithery zum Schnauben. Wütend darüber stand sie auf und blickte über den Rand der Schiffswand. „Braavos, meine Kleine. Dein neues Zuhause", sprach Quaithery leise, während sie das Neugeborene fest in ihren Armen hielt. Als sie die Worte sprach, wurde ihr umgehend schwer ums Herz. Wehmütig atmete sie tief ein und stieg über Bord.

Braavos - die Stadt im Norden von Essos, voller Trunkenbolde und Diebe. Den Gestank der Gassen konnte man schon vom Hafen aus riechen. Quaithery sah sich in den Gassen um – Kämpfe, Elend, Schmutz. „All das wird nun dein Leben sein. Es tut mir so leid, aber dein Name ist viel zu wertvoll, um ihn preiszugeben. Eines Tages wirst du es vielleicht verstehen.", bedauerte sie, als sie tiefer in die Gassen hinein wanderte. Das Gelächter von Frauen wurde immer lauter. Quaithery wusste, dass dieser Ort gefährlich war, aber sie hatte keine andere Wahl. Daenyras wahre Identität durfte niemand erfahren. Quaithery wusste nicht viel über die Lords in Westeros, aber der Name Targaryen war ihr bereits aus dem früheren Valyria bekannt. Aegon, Erster seines Namens, flog mit seinem riesigen Drachen Balerion fort, um Westeros zu erobern – an diese Geschichte erinnerte sie sich gut.

„Was wollt ihr hier?", fragte die Frau an der Tür einer kleinen Gasse und blickte verwundert auf das Neugeborene. „Sie braucht ein Zuhause. Ich vermute, ihr könnt mir dabei helfen.", erwiderte Quaithery und hielt Daenyra in die Richtung der fremden Frau. Die Frau nickte zustimmend und nahm das Baby entgegen. Als sie sich umdrehen wollte, um in das mysteriöse Haus zurückzukehren, hielt Quaithery sie am Arm fest. Die Frau schaute sie erwartungsvoll an. „Sie heißt Daenyra. Trefft eine gute Wahl, sie ist etwas Besonderes." Mit diesen Worten verließ Quaithery die Tür des Freudenhauses und schaute in den Himmel. Die Vögel zwitscherten aufgeregt über ihr. Sie schloss ihre Augen und hielt kurz inne. In Gedanken versunken sprach Quaithery die Worte:

„Das Schicksal kennt deinen Weg."

Die Kinder der SchattenWhere stories live. Discover now