Kapitel 5.1

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- 124 n.A.E. -

Die Möwen kreischten lautstark im Himmel, als Daenyra auf einem Felsbrocken sitzend in die weite Ferne des Meeres blickte. Das Wasser war strahlend grün und klar, aber bei Weitem nicht so schön, wie sie es in Volantis gesehen hatte. Ein Jahr ist bereits vergangen, seitdem sie ihre unersichtliche Reise aufsich nahm. Stolz reckte sie ihren Kopf in die Höhe, als sie aufstand, um sich ihren Dolch erneut umzuschnallen. Daenyra hatte viel erlebt bis hier hin, viele Orte gesehen, aber als sie sich an den Besuch dieser erinnerte, löste das in ihr ein mulmiges Gefühl aus. Sie ertastete die winzigen Edelsteine am Schaft ihres goldenen Dolches. Der Valyrische Stahl fühlte sich gut an und gab ihr neuen Mut. Entschlossen wollte Daenyra aufbrechen, als sie unweigerlich an ihre alte Freundin Visenya denken musste, während sie den Schaft immer noch berührte. Was wohl mit ihr passiert ist - fragte sie sich und holte den Dolch aus der Scheide. Wehmütig betrachtete sie die wunderschönen violetten Edelsteine. Als Daenyra den Dolch wieder zurücksteckte, entwich ihr ein schweres Atmen. Ihre Enttäuschung darüber, dass sie zwar weit gereist, aber dennoch nichts erfahren hatte, machte ihr zu schaffen. Nichts hier in Elyria sah aus, wie sie es in ihrer Vision erlebte. Das Rauschen des Meeres besänftigte sie, während ihr Haar leise im Wind wehte. "Ich muss weiter suchen.", sagte sie bestimmend zu sich selbst und zog los.

Alsbald das Schiff von Elyria in Meereen andockte, ging sie voller Entschlossenheit von Bord. Sie zog sich ihre Kapuze über ihr Haar und klopfte ihren staubigen Mantel zurecht, auch er hatte schon viel erlebt. Von Weitem konnte sie einen goldenen Engel auf der gewaltigen Pyramide erkennen. Ihr Weg führte Daenyra weit in die Stadt hinein. Sie war voll von Menschen, armen Menschen, Sklaven. Daenyra sah mit Schrecken zu, wie sie von ihren Meistern ausgepeitscht wurden. Sie zuckte zusammen und schlich schnellstmöglich durch die Gassen in eine Schenke. "Was willst du, Bursche?", fragte sie die Wirtin hinter der Bar forsch. Ihr Gesicht war dreckig und ihre Haare zerzaust. Ihr zorniger Blick verschwand, als sie Daenyra in ihre grau-blauen Augen sah und bemerkte, dass sie gar kein Junge war, sondern eine hübsche, junge Frau. "Ich bin auf der Suche nach jemandem...", erwiderte Daenyra und begutachtete das Holz des Tresens, während sie ihre Hand darüber gleiten ließ. Es war aufgerauht und morsch, man konnte sich leicht verletzen. "...eine Frau mit einem grünen Kleid und braunen Haaren." Die Frau hinter dem Tresen guckte verdutzt, als ob sie sagen wollte: Nun das könnte doch jeder sein, Dummerchen! "Ich denke, ich weiß, wen du meinst. Sie ist aber nicht hier. Laut dem Geschwätz da draußen, soll sie als letztes in Asshai gesichtet worden sein." Erstaunt blickte Daenrya in ihre braunen Augen. "Ich hoffe, du weißt, was auf dich zukommt. War schön dich kennengelernt zu haben, viel Glück!" Sie schlug ihr schmutziges Wischtuch auf Tresen der Schenke. Mit einem dankbaren Nicken verabschiedete sich Daenyra und reiste Richtung ihres neuen Ziels: Asshai.

Das Läuten der Schiffsglocken klingelte unaufhörlich. Die ersten Sonnenstrahlen zeichneten sich auf Daenyras Gesicht durch die Risse zwischen den Brettern des Schiffes ab. Sie stand auf und ging aufs Deck. Die riesigen Kuppeln der Hafenstadt sahen im Sonnenlicht aus, als ob sie brennen würden. Ein Gefühl von Hoffnung baute sich in Daenyra auf. Sie war zuversichtlich, endlich dem Ort näher zu kommen, den sie zu suchen vermochte. Schließlich wanderte sie los, ihren Blick stets des vermeintlichen Feuers zugerichtet. Daenyra machte einen Schritt nach dem Anderen, immer weiter und weiter abseits der Stadt Asshai. Die Kuppeln der Stadt, die sie hinter sich gelassen hatte, konnte sie kaum mehr erkennen. Ihre Füße brannten vor Schmerzen von der gewaltigen Entfernung, die sie bereits zurückgelegt haben musste. Sie verlor das Gefühl von Zeit, alles sah gleich aus. Enttäuschung machte sich wieder breit, alsbald Daenyra sich flehend umsah und bemerkte, dass hier auch nichts dem weißen Gras aus der Vision ähnelte. Was sollte sie nur tun? Wird das je ein Ende haben? - dachte sie und sank zu Boden. Voller Erschöpfung presste sie ihre Hände gegen den Boden. Sie verlieb einige Minuten in dieser Lage, als sie das Heulen einer Eule wahrnahm und aufblickte. Nachdem sie sich erschrocken umsah, hörte sie nur das schnelle Flattern der Eulenflügel. Sie blickte in die Richtung des Geräusches und erspähte plötzlich durch die vielen verdorrten Bäume hindurch einige Steine. Ihr Blick schärfte sich, während sie die Steine genauer betrachtete. Es waren keine normalen Steine oder gar Felsen. Es waren die Steine einer Mauer, einer zerstörten Mauer. Daenyra sprang auf und ging vorsichtigen Schrittes immer weiter auf die Steine zu. Als sie die dicken Äste der kaputten, alten Bäume auf dem Boden überquerte, durchdrang sie ein kaltes Schaudern. Der Nebel wurde immer dichter um sie herum. Daenyra war unsicher, aber versuchte ihre Furcht zu verjagen. "Ich werde dich finden", flüsterte sie sich zu. Wenige Augenblicke später stand sie vor jener Mauer, die sie durch den finsteren Wald zuvor erblickte. Der Nebel lichtete sich noch immer nicht. Daenyra stand wie angewurzelt da, nachdem sie das dunkelgrüne Wasser zu ihrer Rechten betrachtete. Sie schrak zusammen - erneut hörte sie das Eulengeheule, nur dieses Mal ganz nah.

Die Kinder der SchattenWhere stories live. Discover now