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Ihre nackten Füße baumelten vor und zurück, während sie verschlafen an ihrem zu langen Nachthemd zupfte. Die Dunkelheit machte ihr Angst, bis ihr die Taschenlampe einfiel, für gewöhnlich lag die unter dem Sessel. Ihre Finger glitten auf dem kalten Fließen entlang, bis sie gegen das Plastik stießen. Mit dem Licht war es nicht mehr ganz so unheimlich. Ob es schon wieder sicher war, herauszukommen? „Mama?", flüsterte sie leise durch den Türspalt, bekam aber keine Antwort. Die Klinke der Tür ließ sich nicht herunterdrücken. Alles wirkte verzerrt und seltsam, es gab keine geraden Linien und ihr war schrecklich kalt. In einem der Regale waren die Badetücher verstaut. Doch jedes Mal, wenn sie es rausnahm, lag es plötzlich wieder im Regal. Verzweifelt gab sie auf und legte sich auf den Boden. Kaum, dass ihre Augen sich schlossen, hörte sie eine Stimme. „Jennifer, mein Schatz! Aufwachen!" Finger streichelten ihr sanft über die Stirn und ihre Oma stand mit einem Lächeln vor ihr. Ihre Lieblingspuppe lag am Boden neben ihr und die Vögel zwitscherten vor ihrem Fenster. Schnell schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und nahm ihre Puppe mit sich ins Wohnzimmer.

Das Gefühl des freien Falles riss sie brutal aus ihrem Traum. Die Decke lag am Boden und ihre Beine waren eiskalt. Matt hatte recht, mit der Anlage stimmte etwas nicht. Für eine gefühlte Ewigkeit hatten sie gestern versucht, die Temperatur in den Griff zu bekommen und scheiterten doch am Ende. Das Gästezimmer war genauso weiß wie der Rest des Hauses, gestern war ihr das in der Dunkelheit nicht aufgefallen. Matt und sie hatten noch etwas geredet, wobei ihre Erinnerung daran eher verschwommen war, bis sie sich einfach ins Bett fallen hatte lassen. Es war ihr etwas übel, nicht weil sie zu viel getrunken hatte, aber sie hatte zu viel gegessen. Jennifer ging in das untere Badezimmer, das zugegeben etwas dreckig war vom Vortag. Schnell brachte sie ihr Make-up in Ordnung und trug ein paar der Gläser in die Küche. Es war totenstill in dem Haus und das Chaos war geringer als erwartet. Mit einen Müllsack in der Hand ging sie durchs Wohnzimmer und die Küche und sammelte leere Packungen und Plastikbecher ein. Innerhalb von ein paar Minuten war das Gröbste erledigt und sie war auf dem Weg zur U-Bahn. 


Jennifer sah auf die Uhr, es war kurz vor zehn. Spontan rief sie ihre Oma an, um ihr zu sagen, dass sie vorbeikommen wollte. Wie erwartet freute sie sich und bestand darauf, zusammen Mittag zu essen. Jennifer erzählte ihr währenddessen von ihrem Traum, sie musste ihn einfach jemanden erzählen und ihre Oma war eine der wenigen Personen, die von allem wussten. „Und, dann bin ich hier aufgewacht, also im Traum, im Kinderzimmer waren überall meine Spielsachen und du hast mir einen Morgenmantel hingelegt." „Wie sah der Mantel aus?" Jennifer dachte angestrengt nach. "Er, war bunt und hatte irgendetwas oben? Ein Pferd vielleicht?" „Ich glaub ... warte kurz." Ihre Oma stand auf und ging ins Kinderzimmer, sie hörte die Schranktür aufgehen, das Klappern der Kleiderhaken und schließlich kam ihre Oma mit etwas in der Hand zurück, sie reichte es ihr. Erstaunt betrachtet Jennifer den kleinen bunten Morgenmantel, der zwar etwas verblasst wirkte, aber sonst unbeschädigt war. Ein Einhorn war aufgenäht. „Wow, ich dachte nicht, dass es den wirklich gibt." „Kannst du dich gar nicht erinnern?" „An den Mantel? Nein." „Nein, das meinte ich nicht. Du hast hier gewohnt bei uns." Für ein paar Sekunden suchte sie nach Erinnerungsfetzen. „Ich weiß, dass ich Zeit hier verbracht habe, aber nicht, dass ich hier gewohnt habe." „Du warst immer wieder hier, für ein paar Tage, Wochen und einmal auch Monate. Deiner Mama ging es nicht sehr gut und sie wollte sich nicht wirklich helfen lassen, also haben wir ihr angeboten, uns wenigstens um dich zu kümmern. Es war keine einfache Zeit und wir hatten damals große Sorge, wie dich das alles beeinflussen würde. Aber sieh dich an, du bist ein wundervoller junger Mensch geworden." Jennifer schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Danke, Oma!" War sie zu jung gewesen, um sich zu erinnern oder hatte sie es verdrängt? 

Nach dem Essen ging sie zu der kleinen Bäckerei um die Ecke, um etwas für den Nachtisch zu holen, während ihre Oma den Abwasch erledigte. „Ach, die kleine Jennifer. Wie schön ich dich auch wieder zu Gesicht zu bekommen. Wie geht es deiner Mutter?" Jennifer kannte die Besitzerin der Bäckerei, seit sie ein kleines Kind war und hatte schon damals immer etwas extra von ihr bekommen. Natürlich hatte ihr Gesicht ein paar Falten mehr, aber viel anders sah sie eigentlich nicht aus, selbst die Bäckerei sah fast genauso aus wie damals. „Hallo, es geht ihr gut, danke." Nachdem sie für ein paar Minuten ausgequetscht wurde, verließ Jennifer die Bäckerei mit viel zu vielen Leckereien, für die sie kaum etwas bezahlt hatte. „Ach, wer soll denn das alles essen!" Rief ihre Oma belustigt aus. „Bei deinem nächsten Besuch schick ich dich zur Bank!" Die Zeit mit ihrer Oma wurde immer wertvoller, am liebsten wäre sie geblieben, doch das ging nicht. Schließlich wartete zu Hause noch genug Lernstoff, alleine die Mathe Aufgabe würde ewig dauern. Ein Schlüssel wurde ihr von ihrer Oma in die Hand gedrückt, es war der ihres Opas gewesen. „Du bist hier jederzeit willkommen, du brauchst nicht vorher anzurufen, kannst auch mitten in der Nacht kommen. Der Schrank im Kinderzimmer ist fast leer, lass doch ein paar deine Sachen hierlassen. Opas Computer steht immer noch da und alles, was ich darauf mache, ist Mah-Jongg zu spielen. Wenn du dein Projekt noch bearbeiten willst, kannst du das sicher auch darauf machen." „Danke Oma." Jennifer umarmte sie fest und machte sich dann auf den Weg. Sie brachte es nicht übers Herz, ihrer Oma zu sagen, dass die Programme auf dem Computer wahrscheinlich alle veraltet waren. Der Schlafmangel machte sich langsam bemerkbar, ein kurzes Nickerchen würde sicher helfen. 

Ihre Mutter stand in der Küche und telefonierte, legte aber sofort auf, als sie hereinkam. „Jennifer, wo warst du denn?" Ihre Arme vor der Brust verschränkt und mit ernstem Gesichtsausdruck wartete sie auf eine Antwort. Ohne ihr direkt in die Augen zu sehen, ging Jennifer in die Richtung ihres Zimmers. „Ich war bei Oma!" „Ah schön, da hat sie sich sicher gefreut. Ich hab Pizza bestellt, sollen wir den Film nachholen? Dann können wir auch reden ..." Jennifer ließ sie nicht ausreden. „Ich hab schon bei Oma gegessen. Mit wem hast du telefoniert?" Ihre Mutter nahm den Pizzakarton und eine Dose Sprite und ging an ihr vorbei auf die Couch. „Nur ein Arbeitskollege." „Klar! Und das ist derselbe, bei dem du die Nächte verbringst?" „Jennifer! Das geht ..." ohne den Rest abzuwarten, ging sie in ihr Zimmer und knallte lautstark die Tür zu. Mit angehaltener Luft blieb sie dahinter stehen und wartete, vergebens. Ihre Mutter kam nicht, um mit ihr zu reden, die Anfangsmelodie des Filmes war alles, was man hören konnte. Gerade als ihre Gedanken immer dunkler wurden, ertönte ihr Handy. Verwundert sah sie auf drei neue Nachrichten, für gewöhnlich blieb ihr Handy eher still. Matt, Lucas und eine unbekannte Nummer, die sich als Sabrinas herausstellte, die sie auf der Party kennengelernt hatte. Sabrina sah ebenfalls gerne K-Drama und hatte sie eingeladen, bei der nächste WatchParty dabei zu sein. Ihrer Mutter war es scheinbar nicht mehr wichtig, was in ihrem Leben passierte, also sollte sie sich auf ihre Zukunft konzentrieren. Ihr wurde klar, dass das Zusammenleben einfach nicht funktionierte, hatte es nie wirklich. Aus sentimentalen Gründen zu bleiben, ergab keinen Sinn, wenn alle dadurch unglücklich wurden. Doch jetzt war sie älter, die Situation war ganz anders als früher, vielleicht gab es eine Lösung?

ꕤ Vergissmeinnicht ꕤWhere stories live. Discover now