Kapitel 1 - Grace (von Emilia C. Kingston)

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Meinen Koffer hinter mir herziehend steige ich aus dem Bus und bleibe stehen, um dieses unglaubliche Bild auf mich wirken zu lassen. Auf den breitgewachsenen Zypressen und den gestutzten Buchsbaumhecken türmt sich der Schnee, der unaufhörlich vom Himmel rieselt und dieses parkähnliche Gelände in ein Winterwunderland verwandelt.
»Bitte weitergehen, junge Dame. Andere wollen auch aussteigen«, weist mich der ältere Herr hinter mir auf meinen Fehler hin.
»Tut mir leid.« Die Rollen meines Koffers versagen in dem dichten Schnee und ich schleife ihn beiseite, um den Unmut der Leute nicht länger auf mich zu ziehen. Nur schwerfällig schaffe ich es, mich zum Eingang vorzuarbeiten.
»Bitte, beruhigen Sie sich«, ist das erste, das ich höre, als ich das Foyer des London's Place betrete. Die Rezeptionistin versucht, den Überblick zu behalten, aber wie ist das möglich bei den vielen Menschen, die alle drängen, eines der Zimmer zu ergattern?
Leider stehe ich ziemlich weit hinten in der Schlange. Mit vor Kälte steifen Gliedern schüttle ich mir die Flocken aus den Locken und stampfe den Schnee von meinen durchnässten Ankle Boots. Der Bus hat uns direkt vom Flughafen hierher gebracht, dabei sollte ich längst im Flieger Richtung Amerika sitzen. Warum habe ich mich überreden lassen, mein Praktikum im St. Thomas' Hospital um zwei Tage zu verlängern. Hätte ich mich an den Plan gehalten, würde ich längst mit meinen Freunden das Weihnachtsessen in unserer WG vorbereiten. Stattdessen bin ich hier in diesem Schloss. Eine andere Bezeichnung würde diesem Hotel nicht gerecht werden.
Schon auf der Zufahrt habe ich mir die Nase an der Scheibe plattgedrückt, als der Bus auf dieses riesige Gebäude mit alter Backsteinfassade zuhielt. Die Einrichtung drinnen steht dem in nichts nach. Im Empfangsbereich ist alles in Braun und Blau gehalten. Dunkle Paneele zieren die Wände. Edle Polster in Himmelblau, Kronleuchter mit kleinen Lampenschirmen in der gleichen Farbe.
Rechts von mir brennt ein Feuer in einem riesigen Kamin. Einige Neuankömmlinge haben sich vor ihm versammelt, um sich aufzuwärmen. Wenn man sich die Menschen wegdenkt, die schimpfend und aufgeregt umherirren, hätte ich das Gefühl, mitten in einem Märchen gelandet zu sein.
»Geht das nicht schneller?«, ruft jemand durch die Menschenmassen, die immer nervöser werden.
»Frances, ich glaube, das wird nichts mehr«, murmelt mein Vordermann.
Neugierig tippe ich dem Wartenden vor mir auf die Schulter. »Entschuldigung.« Er dreht sich zu mir um. »Ich wollte nicht lauschen, aber ...« Erschrocken weiche ich zurück. »Was ist das?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mich an, während ich nur auf dieses kleine Wesen in seinen Armen starren kann.
»Du meinst Frances? Er ist ein Chihuahua.« Ein kleiner Kopf guckt über die Arme, die ihn halten.
Jetzt erkenne ich es auch und mein Herz geht auf. »Aw, er ist sowas von süß.« Mein Blick scheint den kleinen Kerl einzuschüchtern, denn er vergräbt schutzsuchend die Nase in dem Stoff der Jacke des Mannes.
»Ich bin übrigens Rome, aus Chicago.«
Ich löse mich von dem süßen Wesen und schaue in die grauen Augen seines Herrchens. »Tut mir leid. Wie unhöflich von mir. Ich bin Grace, und ich muss dringend zurück nach New York. Am besten noch heute.«
»Glaub mir, du bist nicht die einzige, die dringend nach Hause will.« Demonstrativ sieht er sich im überfüllten Foyer um.
Seinem Blick folgend gebe ich mich meiner geplatzten Hoffnung geschlagen. »Du hast recht«, stimme ich ihm mit einem resignierten Lächeln zu. Er lächelt zurück. Seine Lippen, die von einem gepflegten Bart eingerahmt werden, haben einen wohlgeformten Schwung. Überhaupt ist er ein besonderer Typ Mann. Mit seinen mahagonifarbenen Haaren, die er zurück frisiert und an den Seiten kurz trägt, hat er etwas Markantes an sich, das ihn aus der Masse herausstechen lässt. Auf jeden Fall verspüre ich den Drang, mehr über ihn zu erfahren. »Es ist nur das Heimweh, das mich ein bisschen emotional werden lässt«, versuche ich mich zu erklären. Wobei in New York nicht wirklich jemand auf mich wartet. Ich sollte froh sein, nicht allein in meinem Zimmer zu versauern, während meine Mitbewohner zu ihren Familien fahren, nachdem sie mein obligatorisches Weihnachtsessen aus purer Nächstenliebe und einer guten Portion Mitleid hinter sich gebracht hätten. Aber es ist das erste Jahr, an dem ich nicht am Rockefeller Center bin und mich beim Anblick des riesigen, geschmückten Baumes sehnsüchtig in die Weihnachtsabende meiner Kindheit zurückträume.
»Heimweh? Wie lange warst du nicht zuhause?«
»Drei Monate. Ich war hier für ein Auslandspraktikum. Ich studiere Medizin.«
»Wow, das klingt aufregend.«
»Na ja, eigentlich nicht. Die meiste Zeit meines Studentenlebens verbringe ich damit, meinen Kopf in Fachbücher zu stecken. Also, eher lang-wei-lig.« Den letzten Satz untermale ich mit einem gespielten Gähnen in meine Handfläche, was seinen Lippen wieder zu diesem bezaubernden Schwung verhilft.
»Aber, wenn ich jetzt plötzlich umfallen würde, wärst du in der Lage, mich zu reanimieren. Das ist doch cool.«
Selbstbewusst zucke ich mit den Schultern. »Kann schon sein.«
Plötzlich geht alles ganz schnell und Rome reißt die Augen auf.
»Was ist los? Was hast du?«, frage ich alarmiert.
Dann presst er sich eine Hand auf die Brust und fällt inmitten der Menschen zu Boden. Sein kleiner Chihuahua springt aufgeregt schwanzwedelnd um seinen Kopf herum und leckt mit seiner Minizunge über sein Gesicht.
»Rome«, zische ich durch meine Zähne und sehe mich verlegen zwischen den Menschen um. »Steh auf.«
Er reagiert nicht.
Die Leute um uns herum werden auf die Situation aufmerksam. »Oh nein, wir brauchen einen Arzt.«
»Schon gut. Sie ist Ärztin«, ruft Rome auf dem Teppich liegend und zwinkert mir zu, was mich die Fäuste in die Hüfte stemmen lässt. »Grace, rette mein Leben«, fordert er theatralisch.
Meine Wangen brennen vor Scham, weil immer mehr Schaulustige uns beobachten. Wenn er so weitermacht, setzen die uns vor die Tür und wir können sehen, wo wir bleiben. Schnell hocke ich mich neben ihn und bitte ihn erneut: »Rome, bitte steh auf, bevor die Leute panisch werden.«
»Vielleicht würde hier dann endlich ein bisschen Stimmung aufkommen.« Er rappelt sich hoch und Frances springt ihm sofort auf den Arm, was mich zum Lachen bringt.
»Was ist?«, fragt er verwundert und streicht sich die Haare zurück.
»Nichts. Ich frage mich nur, wie ein Mann, wie du ...«
»Ein Mann wie ich?«
»Na ja, du bist schon eine Erscheinung. So ein richtiger Kerl eben. So groß und breit.« Mit den Händen zeichne ich seine Konturen nach. Dieses Mal schenkt er mir mehr als ein Lächeln.
»Lass mich raten. Du fragst dich, wie ein Mann wie ICH zu einem Hund wie Frances kommt?«
»Ja,«, antworte ich knapp. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht oberflächlich, aber an seiner Seite hätte ich mir eher einen Pitbull oder eine andere muskelbepackte Rasse vorgestellt.
»Okay, okay, fangen wir von vorne an. Was denkst du denn, wie ich mein Geld verdiene?«
»Die Frage ist fies. Alles, was ich sagen würde, kann nur nach hinten losgehen.«
»Komm schon. Rate.«
Keine Ahnung, wo das plötzlich herkommt, aber, wenn ich jetzt in seine leuchtenden Augen sehe, kann ich ihm den Spaß unmöglich abschlagen.
»Hm«, gespielt grüblerisch tippe ich mit dem Zeigefinger gegen meine Lippen, »vielleicht gehört dir eine Bar oder du bist Sportler. Wobei ... mit Frances auf deinem Arm ... Modedesigner vielleicht?«
Er lacht und Frances stimmt bellend mit seinem zarten Hundestimmchen mit ein. »Das war gut. Wirklich gar nicht schlecht.«
»Nun sag schon, was machst du, wenn du nicht im verschneiten London festsitzt?«
»Ich habe einen Tattoo-Shop, werfe am Wochenende mit meinem Kumpel Steven gern ein paar Körbe und besuche oft meine Schwester in ihrer Bar. Also irgendwie spielt das meiste, das du gesagt hast, in meinem Leben eine Rolle.«
Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass er das nur sagt, um mich nicht komplett blöd dastehen zu lassen. »Das erklärt aber noch nicht, wie du zu Frances gekommen bist.«
Sein Blick verändert sich für einen kurzen Wimpernschlag. Es war kaum zu erkennen, aber ich habe die kleine Stressfalte auf seiner Stirn gesehen.
»Meine Ex wollte ihn nicht mehr, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn wegzugeben. Er ist mein Kumpel«, sagt er schulterzuckend. »Und er ist echt viel gefährlicher, als er aussieht. Eine Kampfmaschine. Ein richtiger Killer.«
Ich kann mein Grinsen spüren, das bis zu meinen Ohren reicht. »Das glaube ich dir.«
Vorsichtig halte ich die Hand vor die kleine Hundenase. Frances beschnüffelt mich neugierig und schleckt dann einmal quer über meinen Handrücken. »Hast du das gesehen?«, frage ich mit leuchtenden Augen. »Er wollte mich fressen.«
»Oh ja, eine Sekunde länger und du hättest deine Hand verloren.« Etwas in Gedanken ergänzt er: »Er scheint dich zu mögen.«
Und plötzlich ist da diese Stille zwischen uns, die dem Augenblick Bedeutung schenkt und einem klarwerden lässt, dass hier etwas passiert. Dass sich eine normale Unterhaltung zweier Fremden, zu etwas Tieferem entwickelt. Zumindest habe ich in diesem Moment ein verräterisches Kribbeln im Bauch und in Romes Augen erkenne ich, dass aus anfänglicher Neugier ehrliches Interesse geworden ist.
Sich mit Rome zu unterhalten ist leicht und ich habe gar nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen ist. Wir haben uns der Rezeption so weit genähert, dass er gleich an der Reihe sein wird und unser gemeinsames Warten ein Ende findet.
Er räuspert sich. »Was hältst du davon, wenn wir uns nachher an der Bar treffen? Oder wir gehen mit Frances in den Park. Also nur, wenn du willst. Das soll jetzt keine billige Anmache sein.«
»Sehr gern.« Verlegen streiche ich mir eine verirrte Locke hinters Ohr. Warum bin ich auf einmal so nervös?
»Sir?« Die Dame am Empfang unterbricht uns.
Rome setzt den kleinen Chihuahua auf den Boden und dreht sich zu ihr. Den Moment nutze ich, um mit geschlossenen Lidern entspannt in den Bauch zu atmen, um dieses flaue Gefühl im Magen, verursacht von den wild umherflatternden Schmetterlingen, zu vertreiben. Ich bin aber sofort wieder bei der Sache, als ich ihre Worte in meinem Hirn verarbeite.
»Wir haben leider kein Einzelzimmer mehr frei, und aufgrund des Ansturms kann ich leider kein Doppelbett an einen Single vergeben.«
Single. Warum klingt es aus ihrem Mund, als wäre es etwas Seltsames, Single zu sein?
»Okay, aber irgendwo muss ich schlafen. Also, welche Alternativen gibt es?«
»Nun ja«, druckst die Rezeptionistin herum. »Sie können sich jemanden suchen, mit dem Sie sich das Doppelzimmer teilen.«
Frances springt freudig an meinem Bein auf und ab und scheint Rome damit auf eine Idee zu bringen. Mit dem Fuß stupse ich den kleinen Hund vorsichtig von mir, aber der lässt sich nicht abschütteln. Rome beobachtet das Schauspiel mit auf den Empfangstresen gestützten Ellbogen.
»Die Frage, ob zu dir oder zu mir, hat sich damit wohl erledigt.« In seinen Augen blitzt der Schalk und in meinem Mund wird es plötzlich staubtrocken.
»Äh, was?«, frage ich mit piepsiger Stimme, weil er mich damit völlig aus dem Konzept bringt.
»Okay, lass es uns offiziell machen.« Vor mir sinkt er auf die Knie und Frances springt auf seinen Schoß. »Grace, würdest du mir die Ehre erweisen und dir mit uns ein Zimmer teilen? Damit wir bei diesem Wetter nicht auf einer Parkbank erfrieren müssen?«
»Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn wir draufgehen. Und jetzt steh sofort wieder auf.« Schüchtern und etwas peinlich berührt schaue ich mich um, aber jeder um uns herum hat mit sich selbst zu tun. Nur die Rezeptionistin schenkt uns ein warmherziges Lächeln.
Zwei Menschen, die sich kaum kennen. Ein Bett. Eine Nacht mit ihm. Das Kribbeln, das mich erfasst, reicht mir bis in den großen Zeh.

London's (W)Right PlaceWhere stories live. Discover now