Anders

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„Also, was denkst du?" Mit zusammen gezogenen Brauen beobachtete Kylo Léan's Füße, die irgendwo zwischen Tischplatte und Fußboden unbestimmt in der Luft baumelten. Seinen ersten Impuls, dem Jungen zu befehlen, dieses Gezappel zu unterlassen, hatte er bereits hinuntergeschluckt. Etwas an der Sorglosigkeit, mit der er sprach und sich gebärdete, war seltsam erfrischend. Kylo fragte sich, ob der Junge eine Ahnung davon hatte, wie viel er ihm — waren sie unter vier Augen — durchgehen ließ. „Über die Sitzung?" Léan neigte den Kopf bei seiner Antwort nur leicht in seine Richtung, als gäbe es auf dem dunklen Boden irgendetwas, das seiner Aufmerksamkeit mehr bedurfte als der Mann, welcher am Ende des langen Tisches saß und ihn abwartend musterte. Kylo verdrehte die Augen."Unter anderem. Wie denkst du, sollten wir weiter verfahren?" Es war noch keine halbe Stunde her, dass die Generäle sie allein gelassen hatten. Beide Männer hatten die Zeit gebraucht, um ihre Gedanken zu sammeln. Nun war es aus Sicht des Obersten Anführers jedoch an der Zeit, ihre Überlegungen in Worte zu fassen. Er hatte nicht ewig Zeit. Léan blickte urplötzlich auf und beide starrten sich ein paar lange Sekunden in die Augen. Dann grinste der jüngere verschmitzt, sprang von der Tischplatte hinunter und zog sich einen Stuhl vom Tisch, auf dem er sich alsbald fallen ließ. Hätte er die Füße ausgestreckt, hätte er Kylo berühren können; aber er unternahm nichts dergleichen. „Sie wollen dieses Projekt nicht fallen lassen, Sir." Kylo schnaubte. Es überraschte ihn nicht, dass der Junge es wusste, obwohl er sich in der Sitzung intentional bedeckt gehalten hatte. Doch standen zwischen ihm und der Entscheidung, die darauf wartete gefällt zu werden, eine Reihe anderer Männer und Frauen, die er — ob er wollte oder nicht — berücksichtigen musste. „Du hast recht", sagte er. „Aber darum geht es nicht." „Nein? Wie kann es nicht darum gehen, was der Oberste Anführer will?" Wenn Léan seinen Titel aussprach, klang er stets wie ein Kind — so unschuldig und unvoreingenommen. Sein Ton versagte an Hux' Bitterkeit und Virgo's offensichtlichem Respekt, wobei letzteres Kylo überraschenderweise überhaupt nicht störte. Er war sich nicht sicher, wie das Bild aussah, das der Junge von ihm hatte, aber er konnte nicht bestreiten, dass es ihm irgendwie gefiel. Nachdenklich ließ er seinen Blick zu der Tür schweifen, durch die die Ratsmitglieder verschwunden waren.

„Ich kann sie nicht ignorieren. Glaube mir, ich würde sie gerne in ihre Schranken weisen", er unterdrückte ein tiefes Seufzen. „Aber ich darf nicht zulassen, dass sie sich so ausgegrenzt fühlen, dass sie beschließen eigene Wege zu gehen." Léan schwieg. „Angenommen, ich fände einen Weg sie davon zu überzeugen, weitere Aktionen dieser Art zu unternehmen. Was denkst du, wo sollten wir ansetzen? Coruscant war nicht allzu schwer. Aber ich bezweifle, dass wir im Äußeren Rand Fuß fassen können. Wir sind noch nicht so weit." Augenblicklich dachte er an Rey; Kylo senkte den Blick, sodass Léan nicht sehen konnte, wie eine Wolke der Frustration sein Gesicht heimsuchte. Er hatte von seinen Spionen erfahren, dass der Widerstand bereits einen neuen Einsatz plante und obwohl er Rey seitdem nicht gesehen hatte, spürte er, dass sie auf seine Hilfe verzichten wollte. „Warum denken Leute wie Sie immer sofort an den Äußeren Rand?" Kylo warf ihm einen finsteren Blick zu, aber Léan zuckte nur mit den Schultern; er hob abwehrend die Hände, ohne sich wirklich bedroht zu fühlen. Leute wie Sie... Kylo hätte ihm gerne widersprochen, aber Léan gab ihm keine Chance dazu: „Ich denke, wir sollten dort weiter machen, wo wir angefangen haben: In den Kernwelten, vielleicht im Mittleren Rand. Es gibt dort noch genug Welten, auf denen die Sklaverei in den letzten Jahren Fuß gefasst hat." „Trotz des Verbots der Republik?" Léan lachte freudlos. „Natürlich trotz des Verbots. Die Leute tendieren dazu, vor solchen Problemen die Augen zu verschließen, anstatt etwas dagegen zu tun. Wie soll man auch tausende Welten gleichzeitig überwachen?" Kylo schwieg. Es war so einfach, das zu sagen — besonders für jemanden, der keinen Grund hatte, sich verantwortlich zu fühlen. Aber tausend Welten gleichzeitig im Blick zu halten, war genau das, was ihn im Moment so schrecklich herausforderte. „Okay." Léan kaute nachdenklich auf seiner Lippe herum. Er warf dem Obersten Anführer einen scheuen Blick zu. „Ich denke außerdem", sagte er schließlich. „Dass wir den Äußeren Rand — für's erste zumindest — dem Widerstand überlassen sollten." Er sprach so leise, dass Kylo erst meinte, er hätte ihn nicht verstanden. Aber die Worte sickerten klar und deutlich in sein Bewusstsein. Er musste seine Hände hinter seinem Umhang verbergen, um das plötzliche Zittern vor den Augen des Jungen zu verbergen. Als er nichts sagte, sah sich Léan gezwungen, weiterzusprechen — obwohl er an diesem Punkt gerne aufgehört hätte. „Ich...", er räusperte sich. „Ich gehöre zur Ersten Ordnung." Er suchte Kylo's Blick, musste jedoch feststellen, dass ihn der Oberste Anführer überhaupt nicht richtig ansah. Unschlüssig fuhr er fort: „Aber... man kann nicht bestreiten...dass sie ihre Arbeit gut machen. Die Rebellen, meine ich." Er senkte den Kopf. „Zumindest die Rebellen, die sich in der Sklavensache engagieren. Das Mädchen. Und die anderen." „Welches Mädchen?", unterbrach ihn der Oberste Anführer angespannt. „Ich hätte das alles nicht sagen sollen", murmelte Léan. „Ich bin kein Verräter, wirklich." Kylo machte eine wegwerfende Handbewegung. Seine Augen fixierten den Jungen mit solcher Intensität, dass er sich gezwungen sah, woanders hinzusehen. „Es ist nur so, dass die Leute reden. Nicht nur hier bei der ersten Ordnung..." „Reden?" Léan nickte. „Über den Erfolg des Mädchens. Über ihre... Stärke? Ihren Mut?" „Welches Mädchen?", stieß Kylo zwischen aufeinander gepressten Lippen hervor. Es war das erste Mal, dass Léan in seiner Gegenwart einen Hauch von Angst verspürte. Nein, keine Angst. Er glaubte nicht, dass der Oberste Anführer ihm gegenüber handgreiflich werden oder einen seiner Machttricks demonstrieren würde. Aber eine so starke Reaktion hatte er noch nie auf dem sonst so unfassbar kontrollierten Gesicht gesehen. „Die Jedi", antwortete er letztlich. „Obwohl es heißt, sie benutze ihr Lichtschwert nur äußerst selten." Léan versuchte sich daran zurückzuerinnern, was er gehört hatte, als er kürzlich in einer cantonicanischen Bar gesessen hatte. "Die Leute haben sogar einen Namen für sie." Kyo schnaubte. „Achja?" Léan nickte. „Sie nennen sie die Kettenbrecherin." „Die Kettenbrecherin...", Kylo ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Rey. Er hatte nicht geahnt, dass sie so erfolgreich war. Warum hatte er nicht eher auf sie gehört? „Und was erzählen die Leute über die Erste Ordnung?" „Über uns?" Léan kratzte sich unwohl am Hinterkopf. „Allgemein oder in Bezug auf Coruscant?" „Beides, aber beginnen wir mit Coruscant." „Nun...", er faltete die Hände in seinem Schoß. „Grundsätzlich heißt man die Aktion gut." „Grundsätzlich?" „Es bestehen ein paar Zweifel bezüglich unserer Absichten." „Pfff." Léan zuckte hilflos die Achseln. „Kannst du mir eine Liste an Welten im Kern und im Mittleren Rand zusammenstellen, auf denen wir im Anschluss an unsere letzte Mission intervenieren könnten?" Mit einem Mal war der Oberste Anführer auf dem Gesicht des Mannes zurückgekehrt; Léan seufzte erleichtert und nickte. „Irgendwelche besonderen Wünsche?" Kylo schüttelte den Kopf. „Ich möchte nur, dass wahrgenommen wird, was wir tun. Und wozu wir es tun." „Wozu?" Kylo zog eine Augenbraue fragend nach oben. „Was denkst du, warum ich mich in dieser Sache engagiere?" Der Junge schwieg und schüttelte dann mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen den Kopf. „Ich weiß es nicht", antwortete er ehrlich. „Keiner weiß es." Als er Kylo's überraschten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er schnell hinzu: „Es ist gut. Wirklich. Aber... es passt nicht wirklich zu dem Kylo Ren, von dem ich einmal gehört habe." Beide senkten sie den Blick. Kylo wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Und Léan fürchtete sich, noch mehr unangebrachte Dinge zu sagen. Es war ihm ein Rätsel, warum der Oberste Anführer seiner Anwesenheit noch nicht überflüssig geworden war.

Eine neue ÄraWhere stories live. Discover now