Prolog

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"Funny how silence can be the loudest sound of all." — Lauren Oliver

London, 1536

Die Schreie hallten durch das gesamte Quartier. In jedem Winkel, jedem Stockwerk konnte man die Qualen des Jungen hören. Jeder konnte nur erahnen, wie schlimm es ihn gehen musste, um für Stunden und Tage fast ohne Unterbrechungen solche Laute von sich zu geben. Egal wie viel Zeit verging, egal was die Heiler und Priesterinnen auch versuchten, es war keine Besserung in Sicht. Nichts würde seinen Zustand je verbessern können.

Die Stille, die neben den Schreien hier im Quartier herrschte, sie sprach für sich. Jeder wusste, dass es nur einen Weg gab, wie diese Geschichte enden konnte, aber keiner wollte es laut aussprechen, keiner wollte diesen drastischen Schritt wählen, der womöglich eine Gnade wäre.

„Theodor... wie schlimm ist es?", fragte die Hausleiterin des Quartiers, Miss Farley, die mit sicherem Abstand zu den Räumlichkeiten des Jungen im Gang stand, nicht wusste, ob sie das Zimmer betreten sollte oder nicht. Sie kannte ihn immerhin. Mit ihren gerade einmal 30 Jahren war sie noch nicht so alt, dass sie jeden Wächter des Quartiers von Klein auf kannte, so wie manch andere es taten, aber die jungen Wächter hatte sie alle von klein auf heranwachsen sehen. Der leidende Junge hinter der Tür war da keine Ausnahme.

Michael Lundgren, Linie der Götter. Er war 16 und sein Todesurteil war es, dass er vor zwei Wochen seine Kraft bekommen hatte. Aus der Linie der Götter bedeutete das, eine Gottheit zugeordnet zu kriegen und in der Regel ist das nichts Schlimmes. Selbst die mächtigsten Gottheiten ehren diese besonderen Bindungen. Sie sind ein Geschenk und keine Bürde. Für die Götter ist es eine Ehre, so auserwählt zu werden und zu einer Welt eine Bindung zu haben, die seit Ewigkeiten von allen anderen Welten so abgetrennt war. Nur alle paar Jahrhunderte kommt es vor, dass ein Wächter überhaupt an einen Gott aus der Unterwelt gebunden wird, denn diese können ein Problem werden.

Michaels Gottheit war Kali, Göttin des Todes, der Zerstörung und der Erneuerung, und obendrein auch noch eine Thronanwärterin der Unterwelt. Sie war eine von den Gottheiten, vor denen die Wächter Angst gehabt hatten, dass irgendwer je an sie gebunden wird. Wie sollte so viel Macht auch gezügelt werden? Wie sollte man den Einfluss solch einer starken und zerstörerischen Gottheit eindämmen? Mit einem Partner wäre es möglich. Ein Partner könnte einen Anker darstellen.

Michael hatte nur keinen Partner und niemand war auch nur annähernd dafür geeignet.

„Es wird immer schlimmer. Die Mittel zur Betäubung wirken nicht mehr. Sein Fieber lässt jedes Mittel sofort wegbrennen", antwortete Theodor ihr, der soeben aus dem Zimmer Michaels getreten war, und tupfte sich mit einem Tuch über seine glänzende Stirn.

„Und Reden hat nichts gebracht?", fragte sie hoffnungslos. Immer wieder hatten die Priesterinnern versucht durch Michael mit Kali zu reden, sie dazu zu bringen, ihre Kraft und Wut zu bändigen, dass sie aufhört zu versuchen durch Michael an Macht zu gewinnen, ihn einzunehmen. Es war nur erfolglos.

„Nein." Theodor schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir wissen nicht, ob sie uns überhaupt hören kann. Wir wissen gar nicht, was sie will und was mit dem armen Jungen passiert, er sagt nur immer wieder dieselben Sätze. Er spricht von einem Mann mit blauen Augen und dann erwähnt er immer wieder einen Namen."
„Welchen?", fragte sie ehrfürchtig, hatte die Hände vor den Mund gedrückt, konnte das alles kaum begreifen. Es war zu schrecklich. Michael war ein liebenswerter Junge gewesen. So begabt, so gütig. Dass das sein Ende sein sollte, war grausam.

„Reed Wentworth. Er sagt immer wieder, dass er Reed Wentworth finden muss."
„Wer ist das?"

Theodor schüttelte nur erneut den Kopf. „Wir wissen es nicht. Ich habe mit Charles Wentworth gesprochen, aber er hat mir versichert, dass niemand mit dem Namen Reed aus seiner Familie stammt. Wer immer es auch ist, er existiert nicht."
„Noch nicht. Ein Wentworth könnte auch aus der Zukunft gekommen sein", merkte sie an und Theodor verzog leicht das Gesicht.

Avenoir| Band 4 [18+]Where stories live. Discover now