Kapitel 14 / Der Ausflug

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Donnerstag.

Henry und die anderen Jungs wurden – wie schon die Tage zuvor – vom überaus pünktlichen Butler geweckt. Der alte Mann zog die Vorhänge zurück, öffnete die Fenster und ließ kalte Morgenluft in das stickige Schlafzimmer strömen. Draußen war es zu dieser frühen Stunde noch stockdunkel. Deutlich war das trällernde Zwitschern kleiner Spatzen zu hören, die von Fassade zu Fassade hüpften und sich an den geflügelten Wasserspeiern kaum störten. Theodor und Martin zogen schnaubend die Decke über den Kopf, Timmy empörte sich lautstark und murmelte etwas von Folter. Henry schlug die Augen auf und sagte gar nichts.

Er beobachtete den betagten Butler und versuchte, auch nur irgendeinen Hinweis – und sei er noch so klein – dafür zu finden, dass ihnen gerade ein mechanisches Konstrukt das Zimmer lüftete. Doch selbst die Gesichtszüge waren derart menschlich, dass Henry schnell den Blick abwandte und leise stöhnte. Sein zweiter Gedanke nach dem Aufwachen kreiste wieder um den Geist, der auf Laxton Manor spukte. Wenigstens war er von Albträumen verschont geblieben und trotz der wenigen Stunden Schlaf halbwegs ausgeruht. Abrupt fiel ihm ein, dass sein Waschzeug noch im Bad lag. Er hatte den Beutel gestern bei all der Aufregung liegengelassen. Henry bat Timmy darum, ihm seinen Waschbeutel mitzubringen und war dankbar, dass sein bester Freund nur müde nickte und nicht nachhakte, weshalb Henry nicht ebenfalls mit zum Duschen kam.

Während des Frühstücks merkte Henry deutlich, dass Mona immer wieder zu ihm herübersah. Er spürte ihre Blicke auf seinem Rücken und in seiner Magengegend tanzten Schmetterlinge. Dennoch war seine Schwärmerei für Mona auf unerklärliche Weise ins Stocken geraten, worüber Henry sehr enttäuscht war. Hatten ihm die Spukerlebnisse in diesem Anwesen so sehr zugesetzt, dass er mit dem Kopf woanders war? Oder war Henry immer noch von Serenas lieblichem Gesang betäubt und stand unter ihrem Bann? Oder lag es daran, dass ihm Monas aufgedrehte Art einen faden Beigeschmack hinterlassen hatte? Die zarten Ausläufer von Enttäuschung, nachdem er Mona gestern besser kennengelernt hatte, konnte Henry nicht leugnen. Missmutig schluckte er den letzten Bissen herunter und spülte mit einem kräftigen Schluck Earl Grey hinterher.
„Jetzt wird es ernst", flüsterte ein Mitschüler und Henry sah nach vorne zum erhöhten Bereich. Dort stand der lange Tisch quer, wodurch die Lehrer, aber auch die Angestellten des Hauses, einen guten Überblick über die Schüler hatten. Henry vermied es, zu Mr. Gold und Serena zu sehen. Er war zu beschämt und hatte Angst, man würde ihm die verbotenen Bilder, die durch seinen Kopf wanderten, buchstäblich von den Augen ablesen können. Mrs. Watson stellte sich vor die anderen Lehrer und schaute auf die drei Schulklassen herab. Wie immer trug sie eine Hochsteckfrisur und ein enges Kostüm, das ihre aufrechte Körperhaltung betonte.
„Guten Morgen", rief sie in gewohnter Strenge.
„Guten Morgen", wiederholten die Knaben und Mädchen im Chor.
„Wie ihr wisst, unternehmen wir heute einen Ausflug zur Seifenmanufaktur."
„Na wie spannend", flüsterte Timmy und vergrub sein Gesicht auf dem Tisch.
„Um 11 Uhr ist Abfahrt. Wir erwarten euch also um 10:45 Uhr in der Empfangshalle. Seid pünktlich. Um 18 Uhr sind wir wieder da. Das Mittagessen fällt heute also aus."
„Auch das noch", stöhnte Timmy leise .
„Dafür erhalten wir um 19 Uhr hier ein etwas umfangreicheres Abendessen, als die letzten Tage zuvor. Ihr braucht euch also nichts einpacken."
„Acht Stunden ohne Essen. Wir werden alle verhungern. In der Seifenmanufaktur."
„Timmy", zischte Henry und boxte seinem Freund in die Rippen. Die Kutscher - die drahtigen Männer waren in einem Nebengebäude unweit der Pferdeställe untergebracht - hatten die Kutschen schon im Halbkreis um den riesigen Springbrunnen geparkt und warteten auf die zahlreichen Schüler. Henry und Timmy stürmten mit Martin und Frédéric freudig in ein leeres Kutschhaus und machten sich auf den beiden Bänken breit. Theodor kletterte als Letzter hinein und warf sich schnaufend auf ein Sitzkissen. Henry empfand den Ausflug als willkommene Abwechslung. Obwohl Laxton Manor das größte und prächtigste Anwesen war, das er jemals gesehen hatte, engten ihn die steinernen Mauern zunehmend ein. Wenn er seine aufgedrehten, lauten Klassenkameraden beobachtete, dann beschlich ihn das vage Gefühl, dass er der Einzige war, der sich in diesem Herrenhaus unwohl fühlte. Keiner der Angestellten von Laxton Manor begleitete die Kinder. Clarise und Serena winkten den Kutschen noch lachend hinterher. Der dunkelhäutige Riese Tohopka hatte seine dicken Oberarme vor der Brust verschränkt und stand mürrisch dreinblickend neben den beiden Frauen. Auf seiner Glatze spiegelte sich das Sonnenlicht. Von Mr. Gold und Stiefelknecht war weit und breit nichts zu sehen. Henry wartete, bis sich seine Kutsche mit einem Ruck in Gang setzte und atmete erleichtert aus. Mrs. Watson hatte ihnen vorhin gesagt, die Kutschfahrt würde knapp zwei Stunden dauern und Henry nahm sich vor, jede einzelne Minute davon zu genießen.

Alba - Der SpiegelWhere stories live. Discover now