Kapitel 23 / Besuch aus der Kindheit

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Es war der zweite Weihnachtstag und London versank im Schnee. Mannshohe Schneeberge türmten sich an den Straßen zu beiden Seiten und machten ein Überqueren für Fußgänger nahezu unmöglich. Gräulicher Matsch mischte sich mit frisch gefallenem Neuschnee und bedeckte ganze Straßenzüge. Timothy Jonathan Atkins II. sah mehrmals zu beiden Seiten und vergewisserte sich, dass kein Automobil zu sehen war. Dann überquerte er eilig die rutschige Straße und hüpfte mit einem Schwung auf den Gehweg.

Sein Beruf als Rechtsanwalt, die vielen Stunden einsamer Recherche in der Kanzleibibliothek und die zehnmal so vielen Stunden im Büro hatten ihn nach wie vor nicht einrosten lassen. Timothy Jonathan Atkins II. war überzeugt – und er wusste, dass die Damenwelt derselben Ansicht war –, dass er mit seinen sechsunddreißig Jahren und trotz eines kleinen Bauchansatzes immer noch gut in Form war. Er wich einigen Pfützen aus und rümpfte die Nase. Wenn ihn seine gute Freundin Sophie Wellington nicht angefleht hätte, würde er den Feiertag heute am liebsten allein auf der Couch verbringen, die Reste des Weihnachtsmenüs verzehren und Trinkschokolade schlürfen. Stattdessen stapfte er durch die feuchte Kälte und steuerte das mehrstöckige Gebäude in der Riverstreet in Upper Nordwood an. Sein ehemaliger bester Freund aus Kindheitstagen, Henry Wellington, wohnte dort mit seiner Ehefrau. Wobei <wohnen> nicht der korrekte Ausdruck war, denn laut Sophie hauste Henry unter erbärmlichen Verhältnissen in einer winzigen Dachkammer. Timmy erinnerte sich noch gut an diese Freundschaft, die unzerstörbar schien und an das unsichtbare Band, das zwei naive Jungen zu Brüdern hatte werden lassen und doch jäh in zwei Hälften geschnitten wurde. Als Kinder hatten sie alles geteilt: Schwärmereien, Ärger mit Lehrern und Mitschülern, Versagensängste in der Schule...alles Dinge, die junge Buben eben kurz vor dem Eintritt ins Jugendalter beschäftigen. Die blaue Fassade des mehrstöckigen Hauses geriet langsam in Sichtweite. Dezent geschmückte Fensterfronten konkurrierten untereinander, während die Gitterstäbe der kleinen Balkone mit Ketten aus Tannenzweigen verziert waren. Timmy sah, dass gräulicher Rauch aus mehreren Schornsteinen aufstieg und verdampfte. Wie Henry nach all der Zeit wohl auf sein Erscheinen reagieren würde? Ob er Timmy die Tür vor der Nase zuschlug? Ob er ihn überhaupt erkennen würde? Timmy hatte Sophie gegenüber Bedenken geäußert, doch Sophie war hartnäckig geblieben. Nach dem, was ihm Sophie in den letzten Jahren über ihren Bruder erzählt hatte, musste Henry wohl eine ziemliche Tortur hinter sich haben. Timmy erinnerte sich. Er erinnerte sich noch gut daran, dass Henry nach dem Klassenausflug aufs Land irgendwie verändert und abwesend wirkte. Er kam immer häufiger müde und fast schon angespannt zum Unterricht. Seine Konzentration und Auffassungsgabe litten so sehr unter seinem körperlichen Zustand, dass die Noten in den Keller rutschten und Henry im darauffolgenden Jahr zu Timmys Entsetzen von der Schule genommen wurde. Seine Eltern hatten ihm einen Privatlehrer zugeteilt, der Henry von da an nur noch zuhause unterrichtete. Etwa ein bis zweimal in der Woche war Timmy noch zu den Wellingtons nach Hause gekommen, um Zeit mit Henry zu verbringen, aber ein halbes Jahr später saß sein einstiger Kumpel apathisch und kaum noch ansprechbar im Erker seines Zimmers. Irgendwann wurde er zu Fachärzten geschickt, durchlief mehrere Kuraufenthalte, kam zurück und wurde erneut fortgeschickt. Da waren Henry und Timmy gerade einmal dreizehn Jahre alt. Dies war auch die Zeit, in der Timmy seinen besten Freund endgültig verlor. Wie es der Zufall jedoch wollte, lief ihm vor einigen Jahren Sophie über den Weg und so wuchs eine flüchtige Bekanntschaft im Laufe der Zeit zu einer soliden Freundschaft. Sophie hatte bis vor kurzem selbst kaum noch Kontakt zu Henry, aber das wenige Wissen über ihren Bruder teilte sie loyal mit Timmy und so wusste der erfolgreiche Rechtsanwalt aus Birmingham von Henrys dramatischem Lebensweg.

Timmy bog in die Greenfield Street ein und betrachtete die aneinandergereihten Hausfassaden, ehe er das Gebäude mit der Nummer 237 ansteuerte. Wellington, prangte eingraviert und mit verschnörkelten Buchstaben auf einem der goldlackierten Messingschilder. Wie lange er diesen Namen schon nicht mehr gelesen, geschweige denn ausgesprochen hatte. Noch einmal tief einatmen, dachte Timmy und ließ dann seinen behandschuhten Zeigefinger über den Knopf schweben. Ehe sein Finger jedoch die Klingel berührte, hielt Timmy inne. Gleichmäßige Schritte näherten sich aus dem Inneren. Ein junger Mann in roter Uniform öffnete die Tür und sah Timmy freundlich entgegen.
„Sie wünschen, Sir?" Timmy war erstaunt, dass das Gebäude wohl über einen Portier verfügte. Er hielt noch immer den Finger über der Türklingel und versuchte, sich seine Verblüfftheit nicht anmerken zu lassen.
„Ich möchte zu Mr. Wellington. Mein Name ist Timothy Jonathan Atkins...der Zweite."
„Mrs. und Mr. Wellington wohnen im siebten Stock. Die Treppe finden Sie auf der linken Seite am Ende des Entrees." Mit einer galanten Bewegung deutete der junge Portier ins Innere. Der Eingangsbereich war mit schwarz-weißen Fließen, die Timmy stark an ein Schachbrett erinnerten, ausgelegt. In etwa vier Metern Höhe baumelte eine modern wirkende Deckenbeleuchtung, die wiederum aus unzähligen Glühbirnen bestand. Rechts neben der Eingangstür entdeckte Timmy einen kleinen Empfangstresen, auf dem sich ein schwarzes Telefon, ein dickgebundenes Gästebuch sowie eine Klingel befanden. Wie in einem schicken Hotel, dachte Timmy, klopfte sich seine nassen Schuhe auf dem Teppich ab und marschierte den Schachbrettflur entlang. Siebter Stock und es gibt hier keinen Lastenaufzug, stöhnte Timmy und legte den Kopf in den Nacken, als er vor dem Treppenhaus stand. Wie eine hölzerne Spirale drehten sich die Stufen hinauf, ehe sie irgendwo oben endeten. Auf dem anstrengenden Weg in den siebten Stock hinauf, stellte sich Timmy das erste Wiedersehen mit Henry vor – sofern ihm dieser überhaupt die Tür öffnen würde. Er ging jede erdenkliche Begrüßung im Kopf durch und führte innere Monologe. Sollte er mit einem Witz beginnen? Ein lustiger Einstieg würde sicherlich das Eis brechen, das mittlerweile zu einem gewaltigen Koloss herangewachsen sein musste.

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