Kapitel 30 / Flucht

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Es war fast Mitternacht und Timmy verstand die Welt nicht mehr. Er war hundemüde und befand sich im Schlafzimmer, presste die Lippen aufeinander und beobachtete, wie Henry panisch seine Habseligkeiten zusammenpackte. Kissen und Decken flogen auf den Boden, weil sein alter Freund aus Schulzeiten den hässlichen ockerfarbenen Pullover nicht zu finden vermochte. An der Tür stand einer der Butler. Timmys Blick wechselte zwischen Henry und dem steifen Mann im Anzug.
„Weshalb genau hält der werte Herr ein Messer in den Händen?"
„Ignorier das doch einfach und pack deine Sachen!"
Der betagte Mann lächelte freundlich. „Mr. Gold bittet um eine zeitnahe Abreise."
„Ah... Wegen der Vorkommnisse im Turm?"
„Timmy!"
„Schon gut."

Henry zog seinen Mantel über und kämpfte gegen eine Panikattacke an. Sein Herz pochte wie wild und die linke Brust schmerzte wie ein stechender Nadelhaufen, aber kein Schmerz der Welt würde ihn davon abhalten können, dieses verfluchte Haus zu verlassen. Kurz und knapp hatte er Timmy davon berichtet, was sich oben im Turmzimmer gerade ereignet hatte und bald darauf standen beide Männer mit gepackten Taschen abreisebereit in dem Schlafzimmer. Dann tauchte plötzlich der Butler auf. Henry wusste nicht, ob die Albträume nun endlich ein Ende hatten und er war sich auch nicht im Klaren, welche Konsequenzen die Befreiung der Frau für ihn haben würde, aber er schob jeglichen Gedanken an dieses Haus und die letzten beiden Tage zur Seite und verstaute die Bilder der leblosen Serena in den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses. Henry wollte endlich wieder nach Hause, weit weg von Laxton Manor und all den schrecklichen Dingen, die ihm hier widerfahren waren. Er wollte wieder in sein Nest.

Ungeduldig wartete er, bis Timmy die Knöpfe seines Winteranoraks zugeknöpft hatte und lief dann vorne weg. Der Butler folgte ihnen leise und unauffällig. Es war ruhig im Westflügel des Anwesens, als Henry und Timmy hastig den Flur entlangstapften.
„Was machen wir, wenn das Auto eingeschneit ist?", fragte Timmy beinahe atemlos hinter ihm und hatte offensichtlich Mühe, mit Henry Schritt zu halten.
„Dann schaufeln wir es frei", entgegnete Henry knapp und ignorierte ein ansteigendes Seitenstechen, das bei jedem Atemzug schmerzvoll in die untere linke Rippengegend stach. Dass sein Körper gerade schlappmachte und dringend eine Pause benötigte, hatte ihm gerade noch gefehlt. Durch den Aufstieg zum Turm und den rasanten Abstieg waren seine Knie weich wie Butter und drohten nach jedem Schritt nachzugeben.
„Mit unseren bloßen Händen?", hörte er Timmy nach Luft schnappend fragen. Am Treppenabgang blieb Henry ruckartig stehen, lauschte kurz, doch war es dort ebenfalls beinahe totenstill. Weder aus der riesigen Eingangshalle unter ihm, noch aus dem weitläufigen Südflügel über ihm drang auch nur ein einziges Geräusch und Henry war sich in diesem Moment nicht sicher, ob ihn diese Feststellung beruhigen oder eher Sorge bereiten sollte. „Beeilen wir uns", sagte Henry und marschierte rasch die Marmortreppe herunter. Wie ein alter gebrechlicher Mann musste sich Henry am Treppengeländer festhalten, als er die Stufen herunterlief und seine Knie bei jedem Schritt neu befehligte, weiterzulaufen. Als Henry und Timmy gerade die Eingangshalle durchquerten, donnerte ein ohrenbetäubender, klirrender Schlag durch das Anwesen und ließ das Haus in seinen Grundmauern erbeben. Kurz darauf folgte ein zweiter Schlag, der Henry erschrocken herumfahren ließ. Das Beben kam ganz eindeutig aus einem der oberen Stockwerke und noch dazu von draußen. Henry musste nicht lange nachdenken, um zu wissen, dass das Geräusch vom Nordflügel kam.

Wie Stahl, der krachend auf etwas Festes einschlägt. Er sah, dass sich auch Timmy mit besorgter Miene umsah, doch der Butler befehligte ihnen mit einer stummen Geste, weiterzugehen.
„Los weiter", knurrte Henry barsch und zog Timmy zur Haustür.
„Ich wünsche den Herrschaften eine angenehme Heimreise."
„Sie können uns mal!" Timmy verabschiedete sich mit einer obszönen Geste, die dem Butler nicht das Geringste auszumachen schien. Mit unbeeindruckter Miene hielt er den beiden Männern die Tür auf. „Sind Sie taub? Sie können uns mal!"
„Er ist nicht echt." Henry stürmte am Butler vorbei.
„Was meinst du mit <nicht echt>?" Draußen vor der Tür zog Timmy den Schal fester und dann fiel auch schon die Tür hinter ihnen ins Schloss.
„Erklär ich dir zu einem späteren Zeitpunkt."

Alba - Der SpiegelWhere stories live. Discover now