Prolog

6 1 1
                                    

Regen.

Der Geruch von frischem Regen und heißem Teer, der erst langsam und dann immer schneller durch das himmlische Nass dunkel – beinahe schwarz – gefärbt wurde. Daran erinnere ich mich, wenn ich an die Zeit zurück denke, in der ich noch ein kleines Mädchen war.

Ich höre das Lachen meiner Freunde, die um mich herum rannten und tanzten. Die Hände in den Himmel erhoben, die Gesichter glänzend vor Freude und die Haare nass vom Regen. Ich höre das Platschen, wann immer nackte Füße auf nassen Asphalt trafen und große Tropfen auf die Blätter der Bäume prasselten. Und ich höre die angespannte Stimme meiner Mutter, wie sie meinen Namen rief, und den meines Bruders.

„Charlotte!", halt die tiefe und doch so feminine Stimme heute durch meinen Kopf, wie sie es früher über die Weite der Wiesen hinweg und durch das Grollen des Donners hindurch tat. Aber ich rannte nie zu meiner Mutter, bevor es nicht mein Bruder tat. Der Blick über die Schulter, um auf Alexander zu warten, scheint mir wie angeboren. Und vielleicht ist er das auch, schließlich war mein Bruder immer schon bei mir gewesen.

Als wir noch Kinder waren – die Welt nicht größer als die Kleinstadt und der Wald dahinter – gab es keinen Tag, an dem wir nicht beisammen waren. Wir gingen erst in den selben Kindergarten und danach gemeinsam in die Grundschule. Auf dem Pausenhof fanden wir uns zwischen all den anderen Kindern, den mittäglichen Weg nach Hause beschritten wir gemeinsam, die Freunde von Alex waren auch die meinen und umgekehrt ebenso.

Alex war der König aller Kinder. Er war der Bandenchef und der Leitwolf; der geborene Anführer und ab der ersten Klasse folgen sie ihm alle. Unter seiner Führung bastelten die Kinder unseres Viertels klapprige Flöße, mit denen sie den Bach hinab schipperten, und lachten, wenn sie ins Wasser vielen und stritten, wenn ihnen das Floß im Wasser kaputt ging und sich keiner verantwortlich dafür fühlen wollte. Es waren die kritzeligen Bauskizzen von Alexander, auf deren Grundlage wir erst eine zweistöckige Hütte und später ein Baumhaus bauten. Aber diese Skizzen und tollkühnen Ideen waren es dann auch, wegen denen – im Sommer öfter als im Winter – die besorgten Mütter und verständnislosen Väter fremder Kinder an unserer Haustür mit der kleinen Aufschrift ‚Schulze' klingelten und meiner Mutter böse Worte zu sagen hatten.

„Treiben Sie ihrem Sohn doch endlich die Flausen aus dem Kopf.", war ein Satz, den ich oft hörte; mit meinem Bruder verborgen hinter der Tür zur Küche sitzend. Angestrengt und neugierig lauschend. Ein anderer Favorit schien „Ihre Kinder dürfen sich so vielleicht benehmen, aber mein Sohn wird ein anständiger Mann." zu sein; mal in erregtem Tonfall und dann wieder mit einer herablassenden Kälte. Und als Alexander und ich älter wurden und statt der Grundschule das Gymnasium besuchten, vernahm ich immer öfter: „Fünf Jahre noch...", „Vier Jahre noch...", „Drei Jahre noch und dann wird Ihr Sohn abgehen. Sie glauben doch nicht, dass so einer den Willen für ein Abitur hat. Und dann was? Wer stellt denn so einen Bengel ein? Hier sicherlich keiner. In Moosburg hat doch niemand Verwendung für so einen.".

Und was sie mit ‚so einem' meinten, war einer, der den Lehrern seine Meinung sagte, auch wenn die nicht zum tiefbayrischen Konservatismus passte. Einer, der lieber mit seinen Freunden, eingestaubten elektrischen Instrumenten und rauschenden Verstärkern in der Garage unserer Eltern probte, statt dem eingeschlafenen Musiklehrer dabei zuzuhören, wie er über Mainstream-Klassik sprach. Einer, der die Welt gerne für sich entdeckte und dabei nicht immer gleich alles richtig machte oder so, wie man es in Moosburg üblicherweise zu machen pflegte. Einer, wie Alexander. Das Problem war nicht, dass mein Bruder so war, wie er eben war. Außenseiter gab es in jeder Gemeinde. Darüber war man sich damals schon genau so einig, wie man es sich heute immer noch ist. Das Problem war, dass er – absichtlich oder nicht – auch andere Kinder mit seiner Art ansteckte.

Aber ganz gleich, was die Erwachsenen zu sagen hatten: Die Kinder – die im Laufe der Jahre zu Jugendlichen heran wuchsen – wussten alle, dass man nur mit Alex ein echtes Abenteuer erleben konnte. So war es, als ihre Beine noch kürzer als die übergroßen Träume in ihren Köpfen waren und auch dann noch, als die Mädchen zu langhaarigen und kurvigen Teenagern heranwuchsen und die Jungs zu Jugendlichen mit tiefen Stimmen und den ersten Barthaaren.

Als wir in die Mittelstufe kamen – mein Bruder und seine Freunde immer einen Jahrgang über mir – rechnete ich mehr als je zuvor damit, dass sich das enge Band zwischen Alexander und mir schließlich doch lockern würde; wenn nicht sogar lösen.

Die Mädchen in meinem Jahrgang hatten über den Sommer begonnen mit Puder, Lidstrich und Glätteisen ihre ohnehin schönen Körper zu perfektionieren. Anstatt, wie früher, gemeinsam mit den Jungs über den Pausenhof zu rennen, pflegten sie nun in kleinen Gruppen beisammen zu stehen, ausschweifend zu gestikulieren, süßlich zu lachen und hin und wieder verstohlene Blick in Richtung meines Bruders und seiner Freunde zu werfen. Selbst jetzt spüre ich, wenn ich bloß daran zurück denkt, dieses zerreißende Gefühl von Verwirrung. Irgendwas schien über den Sommer geschehen zu sein und ich – die ich mit meinem Bruder durch den Wald gerannt und mit seinen Freunden auf Fahrrädern und billigen Skateboards durch die Stadt gefegt war – hatte es als einzige nicht mitbekommen. Ich wollte zu ihnen gehören. Sein wie sie und angesehen werden wie sie.

Mein Bruder muss diese unsichere Sehnsucht in meinen Augen erkannt haben, so wie wir alles in den Augen des anderen erkannten. Ich kann nicht sagen, ob er mit seinen Freunden je darüber redete. Über seine kleine Schwester. Aber ich weiß, dass mir nie neckend hinterher gepfiffen wurde. Dass ich nie unerlaubt angefasst wurde. Dass niemals einer der älteren Jungs gemeine Worte zu mir sagte, oder mich ausnutze, oder verspottete oder mir sonst wie weh tat.

Statt dessen waren die Blicke, die hin und wieder auf mir ruhten, voller Achtung und brüderlicher Liebe. Die Witze bloß neckend und die Berührungen warme Umarmungen und freundschaftliche Raufereien. Alexander war vielleicht ihr König, aber ich war ihre Prinzessin und keines der Mädchen aus meinem Jahrgang bekam je so viel Zuneigung und innige Hingabe, wie ich.

Ich war ihr Mädchen, ihr Engel und ihre kleine Schwester und sie waren meine großen Brüder, meine Armee und meine Freunde. Ich war gleichzeitig die große Schwester, die darauf Acht gab, dass sie sich stritten, aber wieder vertrugen. Dass sie sich rauften, aber am Leben ließen. Dass sie ihre ersten Mädchen küssten und es ernst meinten. Und gleichzeitig war ich ihr kleines Mädchen. Und während sie mich mit auf die ersten Gigs meines Bruders und seiner Band „Moosburgmomentum" mitnahmen sorgten sie dafür, Zigaretten, Drogen und billige Mischgetränke von mir fern zu halten. Wenn sie mit mir auf Hauspartys gingen oder nachts durch die Straßen zogen, ließen sie mich nie ganz aus den Augen. Und wenn wir bei sternenklarem Himmel in dem ausrangierten Golf unserer Eltern über die verlassene Autobahn rasten und laut Musik hörten, schien die Bremse nie fern zu sein.

So sehr und so tief, wie damals, vertraue ich heute niemandem mehr. Manchmal frage ich mich, ob diese Veränderung mit dem Alter kam, oder mit der Zeit andere Menschen. Wenn ich an diese wenigen Jahre zurück denke, spüre ich noch immer die friedvolle Geborgenheit, die ich damals noch als ganz selbstverständlich hinnahm. Unwissend, was das Leben uns allen noch bringen würde.

An manchen Tagen – besonders an regnerischen Sommertagen – wünsche ich mir, diese Welt nie verlassen zu haben. Diese Welt der Kinder, in der jeder Wassertropfen eine schlechte Erinnerung nach der anderen hinfort wäscht. Eine Welt, in welcher der Donner vor dem Unwetter das größte Grauen ist. Wo nur der Blitz die Wolkendecke und die Welt darunter zerreißen kann.

Eine Welt, in der die Menschen noch mit Bonbons lockten, statt mit Bomben zu drohen.

Eine gute Welt.

Meine Welt ist voll von zerrissenen Tieren und ihrem Leid.

Meine Welt trieft.


Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 27, 2023 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

The Year We Met Gerome Van DoornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt