Familienüberschuss

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Ihr wolltet gerne wissen, warum Oliver an dem Tag Abstand von seiner Tante brauchte. Deswegen bekommt ihr hier zum ersten Mal Oliver PoV. Gibt es andere Situationen, in denen ihr seiner Perspektive gerne kennen würdet?

Passt der Ausschnitt zu euren Vorstellungen?

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Das erste, was ich beim Aufwachen spüre, sind zwei kalte Füße, die sich unter meine Beine schieben. Dann hebt sich meine Decke ein Stück an und mein Bruder schlüpft darunter und kuschelt sich an mich.

Ich lege meinen Arm um ihn und ziehe ihn in einer Umarmung. Gleichzeitig öffne ich langsam meine Augen und lasse sie über Linus Erscheinung wandern. Ich bin etwas überrascht, dass er zur mir gekommen ist, etwas, das er schon seit einer Weile nicht mehr gemacht hat.

Obwohl ich gerne fragen würde, was los ist, schweige ich und verhindere nicht, dass meine Augen wieder zufallen. Der ruhige Atem meines Bruders lässt mich langsam wieder wegdämmern und bevor ich es merke, fange ich an, zu träumen.

Vor meinen Augen entstehen die Bilder des gestrigen Nachmittags, allen voran Lennox lachendes Gesicht. Die Erinnerung an seine scheinbar harmlosen Berührungen, während er mit mir getanzt hat, lassen ein warmes Kribbeln durch meinen Körper wandern und selbst im Schlaf kann ich nicht anders, als zu lächeln.

Das Ausschlafen am Sonntag ist meiner Familie heilig und so bleiben wir bis zum späten Nachmittag unbehelligt. Linus muss schlecht geschlafen haben und murmelt auch jetzt noch undeutlich, doch ich liege eine Weile wach da und male mir aus, wie der Abend hätte enden können, wenn meine Tante mich nicht so ewig in Beschlag genommen hätte, dass ich mich kaum richtig von Oliver verabschieden konnte.

Als sich mein Bruder irgendwann schlaftrunken aufsetzt und dann wortlos aus meinem Zimmer verschwindet, greife ich nach meinem Handy. Ein Teil von mir scheint überzeugt, dass ich auf jeden Fall Lennox schreiben sollte, doch etwas hält mich zurück.

Gestern war toll, doch wer sagt, dass irgendetwas davon überhaupt eine Bedeutung hatte? Er hat zwar mitgemacht, aber unser Gespräch wurde unterbrochen und ich bin mir sicher, dass er noch etwas sagen wollte.

Bevor ich es mir anders überlege, öffne ich das Chatprogramm. „Hey", beginne ich. Dann schweben meine Daumen mehrere Sekunden über den kleinen Buchstaben. „Wollen wir uns vielleicht..." Ich breche ab und lösche den letzten Satz wieder.

Mein Kopf ist wie leergefegt und ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich schreiben wollte. Ich fand es toll, dass Lennox gestern da war. Es hat die gesamte Familienfeier so viel schöner gemacht. Genau das schreibe ich ihm auch.

Es dauert einige Sekunden, bis die Nachricht abgesendet ist. Ich lasse den Bildschirm eingeschaltet und es dauert nicht lange, bis das Wort online neben Lennox Namen erscheint und er liest sofort, was ich ihm geschickte habe.

Mein Herz rast. Was er wohl gerade denkt? Antwortet er? Ich warte darauf, dass er zu schreiben beginnt. Ich hoffe darauf, dass er schreibt, dass es ihn genauso geht. Er tut es nicht. Stattdessen ist er wieder offline, ohne eine Reaktion von sich zu geben.

Enttäuscht lasse ich das Handy auf mein Bett fallen. Natürlich, er hat gestern meinen Freund gespielt, um nett zu sein. Jetzt, da er weiß, dass ich schwul bin, hat er Sorge, dass ich ihn anbaggern werde. Bestimmt war es das, was er noch sagen wollte, bevor Mari uns unterbrochen hat.

Ich versuche mir einzureden, dass es von Anfang an nichts werden konnte. Ich habe mich darin getäuscht, dass da irgendetwas zwischen uns war. Selbst wenn er etwas für mich empfinden würde, ich stehe nicht noch eine Beziehung durch, in der ich mich vor allem und jedem verstecken muss.

Die Argumente sind eindeutig. Trotzdem halten sie den dumpfen Schmerz in meiner Brust nicht auf. Als Giovanni mich damals hat stehen lassen, war immerhin meine Mutter da, um mich zu trösten. Jetzt bin ich alleine.

Die Stimme meiner Tante schallt durch das Treppenhaus nach oben. Sie will wissen, ob wir endlich nach unten kommen. An jedem anderen Tag, wäre ich einfach in meinem Bett liegen geblieben, doch, wenn ich jetzt nicht aufstehe, werde ich Teresa den Rest des Tages nicht los.

Mein Handy lasse ich liegen, ich bekomme sowieso keine Antwort mehr. Unten herrscht fröhliche Stimmung. Das Geplapper meiner kleinen Geschwister überlagert sich mit dem Gelächter meines Onkels und einer ausladenden Erzählung von Samuel.

Ich kann mir kein Lächeln abringen. Selbst Linus, der offensichtlich schlecht geschlafen hat, sieht glücklicher aus. Die erste Frage nach meinem Befinden kommt von Caro. Ich antworte ausweichend.

Der Esstisch ist nicht groß genug, damit sich alle Familienmitglieder hinsetzen könnten, deswegen fällt kaum auf, dass ich mir nichts zu essen nehme. Ich habe keinen Appetit. Als Teresa aufsteht, zwingt sie mir ihren Platz regelrecht auf.

„Du musst etwas essen, Oliver. Es ist nicht gesund, wenn du nicht frühstückst." Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und greife nach einer relativ leicht belegten Tostada. Der sonst so leckere tomatige Geschmack wirkt heute regelrecht fad und ich bringe nicht mehr als drei Bissen hinunter.

Meine Tante hat es schon wieder auf mich abgesehen. „Hast du keinen Hunger? Ich habe gelesen, dass Appetitlosigkeit ein Anzeichen für Depressionen sein kann." Damit habe ich die gesamte Aufmerksamkeit meiner Familie.

Mit einem leisen Seufzen schiebe ich den Teller von mir. Mein hilfloser Blick an Sofía verpufft, sie pflichtet ihrer Tochter bei, dass ich etwas frühstücken sollte. Muss. Ein flaues Gefühl durchströmt meinen Magen. Jetzt kann ich noch weniger etwas essen.

Ruckartig stehe ich auf. „Ich wünschte, ihr würdet einfach mal Isas Urteil vertrauen, wenn ihr schon mir nicht glaubt, dass es mir gut geht", sage ich in die Runde, aber meine damit besonders Teresa.

„Du verhältst dich wirklich beunruhigend." Sie kann es einfach nicht lassen. „Ich habe gelesen..." Jetzt reicht es mir. Ich gebe gerne zu, dass es mir heute nicht besonders gut geht, aber das heißt nicht, dass sie nachbohren muss, bis sie eine zufriedenstellende Reaktion von mir hat.

Vielleicht sollte ich doch meine nicht vorhandenen Depressionen zugeben, dann wäre meine Tante vielleicht zufrieden. Sie nervt sicherlich nicht so sehr, weil sie sich Sorgen um mich macht. „Es reicht", zische ich.

„Steck dir deine Bemerkungen über meine psychische Gesundheit sonst wo hin. Ich habe da gerade nicht den geringsten Nerv für. Lasst mich einfach alle in Frieden." Ich verlasse den Raum. Meine Familie ist regelrecht sprachlos.

Ich habe meine Schuhe an und bin aus der Haustür, bevor einer von ihnen reagiert. Meine Füße tragen mich weg von unserem Haus, ohne ein wirkliches Ziel. Wenn ich zu Mari gehe, wird sie wissen wollen, was los ist und ich glaube nicht, dass ich es ihr erklären will.

Ich muss einfach weg. Erst nach einer Weile bemerke ich, dass ich nichts mitgenommen habe. Der frische Wind lässt mich in meinem Shirt frösteln und die schwarzen Wolken am Himmel verheißen nichts Gutes. Es gibt nur eine Ort, an dem ich halbwegs trocken bleiben werde.

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