Prolog

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Endlich war es soweit. Nachdem ich meine Eltern seit Jahren anflehte, würden wir unseren Sommerurlaub in diesem Jahr endlich in Schottland verbringen ! Das Harry Potter Mekka schlechthin!

Ich las die Bücher seit meinem 9. Lebensjahr und auch jetzt, kurz vor dem Eintritt ins stressige Abileben, machte alles darin für mich mehr Sinn als die langweilige Wirklichkeit um mich herum.

Gab es wirklich nicht mehr als Hausaufgaben, Gameshows, Schule und Kinobesuche? Wobei Letztere für mich eher noch zu den Highlights des Lebens zählten, schließlich konnte man auch hier der Wirklichkeit entfliehen.

Wobei sich Wirklichkeit für mich wie eine Lüge anfühlte. Ein falsches Wort für mein Dasein. Ich fühlte mich immer, als warte ich auf etwas, damit das Leben wirklich begann. Meine Schwester Mira spottete immer, dass ich auf meinen Brief nach Hogwarts wartete.

Mit ihren 14 Jahren war Mira augenscheinlich viel erwachsener als ich. Sie fand sich einfach im Leben zurecht, in der WIRKLICHKEIT. Sie sah sich keine albernen Fantasiefilme  an und schon gar nicht träumte sie heimlich von einer Liebesromanze mit einem fiktiven Charakter.

Ich sah von meinem halb gepackten Koffer auf und mir entfuhr ein unwillkürlicher Seufzer als mein Blick auf das düstere Poster von Draco Malfoy fiel, der mich in seinem schwarzen Umhang mit den smaragdgrünen Elementen von oben herab musterte. Am liebsten wäre ich in die Bücher gefallen und für immer dort geblieben.

Aber Schottland war auch okay. Schließlich spielte dort ein Großteil der Szenen aus den Harry Potter Filmen. Ich konnte es kaum erwarten, am Loch Shiel zu stehen und mir vorzustellen, wie das Schloss Hogwarts majestätisch und erhaben hinter mir aufragte.

Da gab es nur ein Problem - welches Buch sollte ich mitnehmen? Ich wusste, ich hätte keine Zeit, alle sieben zu lesen, von der Gewichtsbegrenzung ganz zu schweigen. Da mir das Bild des Hogwartssees so eindrücklich vor Augen stand, entschied ich mich für die goldene Mitte - Teil 3 und 4. Ich liebte die Szenen aus den Filmen, die am glitzernden Ufer des Sees spielten. Was für ein Gefühl würde es sein, die Bücher direkt vor Ort zu lesen.

Dieses mal fiel mein Blick auf die überdimensionale Fototapete, die eine komplette Wand meines Zimmers einnahm. Sie zeigte Hogwarts, das sie majestätisch über die Ländereien erhob.

Unter meinen Freunden war ich der Nerd. Selbst unter denen, die auch Harry Potter mochten, was nicht wenige waren. Ich war die, die es immer etwas zu weit trieb. Doch sie lachten wohlwollend über mich und ich wusste was für ein Glück ich hatte, da mein Spleen sicher ein gefundenes Fressen für Mobbing oder ähnliche Gemeinheiten gewesen wäre.

Insgesamt war das Leben gut zu mir. Ich wusste, dass ich dankbar sein sollte. Das wäre ich sicher auch gewesen, wenn es nicht so langweilig gewesen wäre. Ständig hielt ich nach Abenteuern ausschau, doch die schienen in der ach  so tollen Wirklichkeit in meinem Alter nur daraus zu bestehen, dass man sich sinnlos betrank und irgendeine Liebschaft begann.

Auch noch so ein Problem, dass meiner Mutter Sorgenfalten und Mira ein spöttisches Grinsen ins Gesicht trieb, die jetzt schon beliebter war als ihr gut tat.

Keiner der Jungs, die ich kannte interessierte mich. Sie waren alle so gleich. So blass und konturlos und ohne jeglichen Reiz. Da ich wusste, dass ich nicht einfach so in der Harry Potter Welt verschwinden oder mir einen Draco Malfoy abgreifen konnte (Wobei ich Harry als Charakter auch interessant fand aber Daniel Radcliff mich abschreckte), hatte ich vor zwei Wochen so eine Art Beziehung mit meinem Klassenkameraden Julius angefangen. Er war nett und gutaussehend. Und so langweilig wie die Wirklichkeit. So auch unser erster Kuss heute an diesem letzten Tag vor den Sommerferien. Und mein erster Kuss überhaupt.

Wieder fiel mein Blick mit einem Seufzen auf Dracos Gesicht. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Es hatte sich gut angefühlt, aber das wars auch gewesen. Vielleicht hatte ich zu viele Liebesromane gelesen, aber die ganze Zeit hatte ich auf das Feuer, das Erdbeben, den Einsturz meiner Welt gewartet. Nichts war geschehen. Wir hatten uns verlegen von einander gelöst und uns in die Ferien verabschiedet.

Eigentlich hatte ich keine Lust, das fortzuführen. Ich hatte überhaupt nicht zu vielen Dingen Lust, die sich außerhalb von Hogwarts abspielten. Aber das war nun einmal das Leben, wie meine Mutter mir streng erklärt hatte. Sie hätte auch zum Großteil keine Lust auf die Dinge, die ihren Tag anfüllten, aber sie mussten nun einmal getan werden. Und diese Aussage von einer Frau, die mich in einem Anflug von Wahnwitzigkeit nach - ihrer Aussage - den schlimmsten Wehen dieser Welt nach der irischen Hexe Alice Kyteler  benannt hatte, was ein tolles Wortspiel war, da unser Nachname Kettler war. Wann war der Punkt gekommen, da meine Mutter von einer jungen Frau voller Träume zu dieser abgeklärten  nüchternen Person geworden war? Das hatte ich sie auch gefragt und sie hatte mir wütend entgegengeschleudert, dass sie eben erwachsen geworden war und ich das auch langsam werden könnte.

Echt jetzt? Das war das Leben, auf das man sich als Kind so gefreut hatte? Das war der Erwachsenenalltag mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten- meine Mutter die mir sagte, dass sie genauso langweilig und vom Leben abgefuckt war wie ich?

Wozu sollte das gut sein ? Es gab überhaupt keine Ideale, für die ich einstehen, keine Rolle, die ich erfüllen konnte. Ich existierte hier einfach und es hätte keinen Unterschied gemacht, wenn ich nicht dagewesen wäre. Wie ertragen die das alle jeden Tag?

Ich setzte all meine Hoffnungen auf Schottland. Morgen um die Zeit sähe die Welt hoffentlich anders aus.

Harry Potter und das Mädchen aus FantasieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt