ᴷᴬᴾᴵᵀᴱᴸ 30

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»... und was ist, wenn ...?«

»Wenn, was?« , unterbrach Engel mich. »Wenn du den Tod höchstpersönlich herbeibeschwörst und den um Rat fragst?« Sie rollte wie so oft mit ihrem Hocker näher. Ich legte die Gitarre beiseite. »Dag, ich weiß doch selber nichts. Ich kann dir auch nur das sagen, was das Medium gesagt hat.«

»Und wenn ich ihr einen Besuch abstatte?«

»Dag, ich bin ... ich war so viele Jahre alleine in diesem Haus. Ich habe Menschen beobachtet, gesehen, wie Kinder älter wurden. Wie jeder sein ... Leben gelebt hat. Es wird Zeit, das ich ... ich bin genug bestraft worden, indem ich mit ansehen musste, wie draußen etwas geschah, was ich nie haben werde.«

»Aber jetzt hast du mich.«

»Ja. Aber auch du wirst älter werden. Du wirst heiraten. Kinder bekommen. Und ich ... ich würde, falls es einen Weg geben würde, dass ich bleiben könnte, auf ewig die achtzehnjährige Engel sein. Gefangen, hier in diesem Haus.«

»Ich würde bei dir bleiben.«

»Nein. Das würdest du nicht. Und das würde ich auch nicht wollen. Ich habe dir die ganze Zeit gesagt, dass du leben sollst. Mit mir hier in diesem Haus eingesperrt zu sein ... ist kein Leben.«

»Du hast mich doch in dein Leben gelassen.« Es Leben zu nennen, obwohl ihr Herz nicht schlug, waren wohl nicht die richtigen Worte. Aber Engel verstand, worauf ich hinauswollte.

»Ich weiß.« Mir war klar, dass sie eigentlich vorhatte zu sagen, wie oft sie mir geraten hatte, dass ich gehen soll.

»Aber Engel, vielleicht gibt es ja doch ein Schlupfloch. Es muss doch einen Grund geben, weshalb ich dich sehe.«

»Vielleicht ... weil du mich benötigt hast.«

»Was?«

»Du suchst die ganze Zeit eine Lösung ... mir zu helfen. Aber du kannst nichts ändern, was bereits geschehen ist. Möglicherweise bin ich dir erschienen, damit ich dir helfe.«

»Wobei?«

»Du spürst auch eine Dunkelheit. Nicht wie meine, aber ... sie ist da.«

Ich sah auf meinen rechten Arm. »Ich habe nicht solche Gedanken.«

Sie berührte meine Wange. »Und ich hoffe, du wirst diese auch niemals haben.«

Ich stand auf und lehnte mich an die Wand. Diese Ansicht gefiel mir nicht. Ich benötigte keine Hilfe. Sie jedoch umso mehr. Schließlich würde sie verschwinden und nicht ich. Sie würde mich alleine lassen ...

... und mir wurde schlagartig klar, dass doch ich derjenige mit dem Problem war ... und nicht sie.

Sie war all die Jahre alleine. Hatte niemanden. Nur zugeschaut. Irgendwie konnte ich verstehen, weshalb sie sich nach ... Ruhe sehnte, obwohl sie mich hatte. Und mich auch eigentlich nicht verlassen wollte.

Ich würde älter werden. Sie nicht.

Warum auch immer wir uns getroffen hatten, aber es sollte bestimmt nicht dazu führen, dass wir ein Paar wurden. Wir hatten keine Zukunft. Nur den Moment.

»Wenn du das nicht getan hättest, dann ...«

»Dann wäre ich aktuell achtundfünfzig.« , fiel sie mir ins Wort.

»Ja ich weiß aber ... ich seh' dich ... jetzt.«

»Dag. Du musst aufhören, so zu denken.«

»Ist es denn schlimm von mir, wenn ich es tue?«

»Nein. Jemanden wie dich hätte ich in meinem Leben dringend gebraucht. Und ich denke auch oft darüber nach, wie schön es gewesen wäre, die Chance gehabt zu haben, mit dir ein Leben zu führen.«

Mein Handy ging.

Es war Vincent.

»Ja?«

»Bist du ... bei ihr?« , fragte er mich.

»Ja.« , antwortete ich kurz und knapp. Denn gedanklich war ich noch immer bei dem Gespräch zwischen mir und Engel. Eine Unterhaltung, die wir auf irgendeine Weise schon mehrmals durchgekaut hatten.

»Ich bin hier. Bei dir. Also unten.«

Ich blickte aus dem Fenster und sah ihn dort stehen. Er schaute rauf und winkte mir zu.

»Ich komme jetzt.« Ich legte auf. »Vincent ist da.«

»Okay.«

»Ich ... ich lass meine Gitarre hier, okay?!«

Sie nickte und ging mit mir nach unten. »Dag, wenn du ... weiterhin herkommen möchtest, dann ... lass uns bitte nicht mehr über so etwas reden.«

»Ich will doch nur, das uns mehr Zeit bleibt.«

»Ich weiß. Aber die wird es nicht geben.« Sie küsste mich.

Mit gesenktem Haupt verließ ich schließlich das Haus und ging schnurstracks zu Vincent, der noch immer an Ort und Stelle verweilte.

Er lächelte mich an. »Lass uns zu dir hochgehen.« , sagte er.

Ich blieb stumm und überlegte mit zunehmender Intensität.

Vincent übergab mir eine CD, als wir oben waren. »Hab mehrere gebrannt. Ich dachte, wir verticken die in der Schule. Kannst ja später mal reinhören.«

»Klar mache ich.« , sagte ich und platzierte diese auf meine Musikanlage.

Er fasste erneut in seinen Rucksack. »Hier. Ich hab' noch etwas für dich.« Vincent legte mir einen alten Zeitungsausschnitt aufs Bett neben mich, nachdem ich mich dort hingepflanzt hatte. »Ist sie das?«

Meine Augenbrauen zogen sich automatisch zusammen, als ich den Ausschnitt in die Hand nahm und Engel auf dem Foto sah.

Verzweifeltes Mädchen begeht Selbstmord. Engel Ferber wurde nur 18 Jahre alt.

»Ja.« Ich nickte. »Das ist sie.«

»Ich hab's geklaut. Aus'm Archiv.« , meinte er. »Ich wollte ein wenig ... nachforschen, und dann bin ich halt auf den Artikel gestoßen.«

Ich las mir derweil den Bericht durch. Im Grunde gab es keine neue Information. »Sie sieht nicht glücklich aus auf dem Foto.« , fiel mir direkt auf, weil ich sie bereits munter und vergnüglich gesehen hatte. Engel lächelte zwar auf dem Bild, aber es war ... wie gezwungen.

»Ich dachte trotzdem, das du vielleicht gerne etwas haben wollen würdest, wenn sie nicht mehr ...«

»Ich glaube, ich packe das nicht, wenn sie geht.« , sprach ich es aus.

»Doch das wirst du.« Vincent sah mich ein wenig streng an. Jedoch war es eine liebevolle Strenge und ich wusste, wie sie gemeint war. »Sie ist schon länger nicht mehr da Dag. Das musst du einsehen.«

»Ich weiß, aber ... dennoch ist es etwas anderes. Ich weiß ja, wann es geschieht. Ich zähle nur noch die Wochen ... Tage ... Stunden.«

»Du musst akzeptieren, das sie diese Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen hat. Daran wirst du nichts ändern können.«

Ich nickte. Akzeptierte es ungeachtet all dessen jedoch nicht.

Du und ich, nur wir beideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt