nicht mehr als sozialphob wahrgenommen werden

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Vor ein paar Monaten habe ich mit einem Mädchen zusammen gegessen, das im selben Gebäude wohnt wie ich. Sie begann, sich über ein Mädchen aus ihrer Uni zu beschweren, weil sie der Ansicht war, dass sie ihre soziale Phobie nur vortäuschen würde. Ich sagte ihr, dass sie so etwas nicht sagen könne und dass sie mich trotz all ihren Erklärungen nicht überzeugt. Also begnn sie mir zu erklären, was eine soziale Phobie ist und ich dachte mir "wtf? sie will MIR erklären, was eine soziale Phobie ist?" Erst später habe ich realisiert, dass sie mich vielleicht gar nicht als eine Person mit sozialer Phobie wahrnimmt.

Letztes Jahr fragte mich eine Freundin, was meine größte "Phobie" ist (sie meinte höchstwahrscheinlich "Angst"). Ich habe versucht, ehrlich zu antworten und sagte, dass es Präsentationen sind. Zufälligerweise war das genau nachdem ich eine Präsentation gehalten hatte und bei der sie auch dabei war. Sie sagte, dass sie das gar nicht versteht, weil ich doch voll gut gewesen sei (tatsächliche habe ich da auch die bestmögliche Note erhalten, also 20/20). Ich habe ihr erklärt, dass meine beste Note während meiner Schulzeit eine 4 war (deutsches Notensystem) und dass ich so gut wie immer nicht an Tagen, an denen ich eine Präsentation halten musste, in die Schule gegangen bin und ich aus diesem Grund insbesondere ab der 8ten Klasse sehr viele Fehltage hatte. Diese war unentschuldigt, nicht weil meine Mutter keine Entschuldigungen geschrieben hatte, sondern weil ich sie dem Lehrer nicht geben wollte (wahrscheinlich, um nicht mit ihm in Kontakt zu treten), obwohl mir vollkommen bewusst war, dass diese Papiere wichtig waren. Irgendwann in der 10ten Klasse sagte ich einfach, dass ich "vergessen" hatte, dass ich heute dran war, weil das die alte Methode dann doch zu stressig war und weil ich das Gefühl hatte, von den Lehrkräften angelogen worden zu sein, die jahrelang gesagt hatten, dass wir deshalb Präsentationen machen, um für die Präsentationsprüfung zu üben, danach aber immer noch von uns Präsentationen erwartet wurden.

Ich habe das Gefühl, dass mich Leute heute nicht mehr als sozialphob wahrnehmen obwohl ich es immer noch bin und obwohl ich meine ganze Kindheit das Gefühl hatte, darauf reduziert zu werden, weil andere anscheinend das Gefühl haben, dass sie nichts anderes von dir kennen, wenn du "nichts sprichst". Ich dachte, dass das alle direkt wahrnehmen, obwohl oder gerade weil du "nichts machst" und das führte zu einem Teufelskreis: Als ich mich damals immer gefragt hatte, warum ich mich in sozialen Situationen überhaupt ängstlich fühle, hatte ich den Eindruck, dass die Antwort darauf war, dass sie mir sicherlich wieder meine soziale Phobie anmerken werden. 

Ich weiss, dass sich vieles sehr verändert hat. Seitdem ich letztes Jahr mit meinem Studium begonnen habe, dachte ich, dass ich diesen Neuanfang nicht verschwenden sollte und mich deshalb jetzt anstrengen muss. Vieles hat geklappt. Ich erinnere mich an die ersten Tagen und Wochen, dass ich dachte, dass mein "sehr viel" für andere wahrscheinlich immer noch ein "nicht genug" ist. Ich erinnere mich, dass ich nur wenige Monate zuvor, als ich einen Text zu diesem Thema in meine Instagram-Story schrieb, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass meine soziale Phobie bei mir jemals verschwinden würde. Heute gibt es Dinge, die für mich so normal geworden sind (z. B. an einer Kasse zu gehen), dass ich komplett vergesse, dass sie vor zwei Jahren noch mit sehr viel Stress und zögern verbunden waren.

Ich habe auch realisiert, dadurch dass ich weit von meinen Eltern wohne, dass ich die ganze Zeit eigentlich unbemerkt Angst hatte, dass sie mit dabei zuhören und ich mich deshalb nicht traue, Dinge zu sagen oder tun, selbst wenn das komplett "neutrale" Sätze sind.

Ich frage mich, ob ich damals bei dieser Diskussion, als mir soziale Phobie erklärt wurde als hätte ich davon keine Ahnung, antworten hätten können, dass es mich auch betrifft (es ist ja nicht weg, nur weil es sich verbessert hat), ohne dass es mir abgesprochen wird. Ich glaube, es wird dir nicht geglaubt, wenn es dir besser geht.

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