Kapitel 2 - Chatfreunde

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In den vergangenen zwei Wochen hatte Kasamatsu Yukio etwas getan, das für ihn höchst ungewöhnlich und untypisch war, rein gar nicht zu seinem gut strukturierten und vielleicht auch vorsichtigen Lebensstil passte und in manchen Momenten auch dafür sorgte, dass er an sich selbst und seinem Verstand zweifelte. Aus seinem unbekannten Chatpartner, den er nur durch ein Versehen kennengelernt hatte, war letztlich Hiro geworden. Das Verhältnis zu ihm erinnerte an so etwas wie eine Briefbekanntschaft – nur, dass man in heutigen Zeiten eben keine Briefe mehr schrieb, sondern Lines oder andere Textnachrichten verschickte. Was Hiro anging, so war dieser ein höchst ungewöhnlicher junger Mann, wie Yukio hatte feststellen dürfen – angefangen damit, dass er sich nur mit seinem Vornamen vorgestellt hatte und seinen Nachnamen nicht preisgeben wollte. Etwas skeptisch hatte ihn das schon werden lassen, aber so wie er selbst vorsichtig war, war dieser Hiro das scheinbar auch. Zunächst hatte er nur überaus wenig über seinen neuen Bekannten in Erfahrung bringen können: Er war achtzehn Jahre alt und hatte die Oberschule gerade erst hinter sich gelassen, allerdings studierte er nicht, was ebenfalls ungewöhnlich war. Er schien stattdessen in diesem Rehabilitationszentrum angestellt zu sein oder ausgebildet zu werden, das er zu Beginn ihrer Konversationen erwähnt hatte. So gut wie er über die Vorgänge innerhalb von Gesundheitseinrichtungen informiert war, konnte man daran auch keinen Zweifel hegen.

Kasamatsu wusste nicht so recht, was genau ihn dazu antrieb, mit diesem praktisch fremden Jungen zu schreiben, aber irgendetwas weckte in ihm den Drang zu antworten, wann immer eine neue Nachricht auftauchte. Vielleicht war es gerade der Umstand, dass er etwas für sein Leben so untypisches tat, dass ihn weitermachen ließ. Seine Neugierde trübte allerdings nicht sein Urteilsvermögen oder seine Vorsicht. Er hatte sehr damit gezögert, persönlichere Dinge preiszugeben, nachdem er leichtsinnig seinen eigenen Namen, Okamuras und teilweise auch Minagawas offenbart hatte. Hiro war im Gegensatz zu ihm deutlich geschickter darin, Dinge von sich zu erzählen, die letztlich aber keine wirklichen Rückschlüsse ermöglichten. Stattdessen sprach der Jüngere entweder über Dinge, die rein gar nichts mit ihm zu tun hatten oder aber absolut trivial waren. Beispielsweise wusste Yukio, dass Hiro keinen Tintenfisch mochte, die drei als seine Glückszahl betrachtete und die Farbe Orange unfassbar hässlich fand. Wie schon erwähnt: Er war ein überaus eigentümlicher Junge. Zudem besaß er eine ziemlich spitze Zunge. Kasamatsu glaubte ja, dass es die Anonymität war, die Hiro den Mut gab, so zu sprechen.

Jedenfalls schrieben sie seit zwei Wochen miteinander; ausnahmslos jeden Tag verbrachten sie akkumuliert mehrere Stunden damit, sich Nachrichten zu versenden. Anfangs war es noch recht langsam und zögerlich erfolgt, doch mittlerweile war dem nicht mehr so. Und wie das nun einmal so war, kam irgendwann dann doch der Punkt, an welchem man anfing, sich einander etwas mehr zu vertrauen. Sie mochten das Gesicht und Aussehen des jeweils anderen nicht kennen, doch letztlich hatte sich dies als ein weniger störender Faktor herausgestellt, als man es vielleicht vermutete. Vielleicht war es in gewisser Hinsicht auch ein Segen – so konnte man den anderen für Äußerlichkeiten nicht verurteilen oder in eine Schublade stecken.

Hiro hatte sich recht neugierig in Bezug auf Yukios Studium gezeigt und gefragt, an welcher Hochschule er studierte. Das hatte der Schwarzhaarige vor wenigen Tagen offengelegt. Und gemessen daran, dass die Nittaidai eine Universität war, die viele erfolgreiche Athleten hervorgebracht hatte, war Hiros Frage, ob er eine Sportlerkarriere anstrebe, nur verständlich gewesen. Zwar hatte er das verneint, jedoch von seiner Leidenschaft zu Basketball berichtet. Das hatte das Thema ihrer Konversationen komplett gewandelt. Denn Hiro war, wie Yukio kurz darauf erfahren hatte, ebenfalls sehr vom Basketball begeistert und spielte schon seit seiner Kindheit. Text um Text hatte nur noch von diesem Ballsport gehandelt, von welchem sie beide begeistert zu sein schienen. Dadurch war dem Studenten das erste Mal der Gedanke gekommen, dass er gegen Hiro gerne mal in einem Spiel antreten würde – doch mit solchen Äußerungen hielt er sich zurück. Sie kannten einander nicht wirklich, auch wenn sie angeregt Nachrichten miteinander austauschten. Und vielleicht war es auch besser so, dass sie einander nicht persönlich kannten.

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