Kapitel 9 - Zuneigung

95 7 0
                                    

Zeit war ins Land gestrichen seit jenem Tag im Juli.

Die Jahreszeiten hatten sich gewandelt; der überaus heiße Sommer, der ihre Gefühle fast schon angekurbelt hatte, war einem stürmischen und regnerischen Herbst gewichen. Hiromi mochte Regen generell, doch am liebsten war ihr der warme Niederschlag der Regenzeit oder des Sommers. Wenn Wärme und Luftfeuchtigkeit unangenehm aufeinandertrafen und ein jeder fast schon sehnsüchtig das Brechen der Wolken erwartete; wenn sich ein plötzlicher Wind anbahnte und die Temperatur rasant fiel; wenn das kühle Nass vom Himmel prasselte und ein Gewitter über den Köpfen tobte – keine Form des Wetters vermochte sie mehr zu faszinieren und zu begeistern als das Heranziehen eines Unwetters. Vielleicht lag es daran, dass ihre einstige Spielweise im Basketball stets damit verglichen worden war. Lächelnd dachte Hiro an diese Zeit zurück. Einer der schönsten Momente ihres Lebens war zweifelsohne der, als sie im vergangenen Jahr die Nationalmeisterschaft gewonnen hatte. Die Euphorie des Sieges, das Gewicht der Goldmedaille... Sie hatte diesen Augenblick in lebhafter Erinnerung. Und genau das musste sie nun lernen, zu akzeptieren: Es war eine Erinnerung, ein Teil der Vergangenheit... Diese Zeiten waren endgültig vorbei. Ihr Leben, jedoch, ging weiter! Als sie im April aus ihrem Koma erwacht war, hatte sie keinen Sinn mehr in ihrer Existenz gesehen. Sie hatte geglaubt, dass alles vorbei wäre, weil sie nicht mehr spielen konnte. Doch dem war natürlich nicht so. Sie hatte etwas ungemein Wichtiges in ihrem Leben verloren, etwas, das sie ausgemacht hatte, ja... Doch sie musste versuchen, voranzuschreiten.

„Wie kannst du nur so ruhig bleiben...?" Die Stimme des Schwarzhaarigen holte sie aus ihren Gedanken zurück, sodass Hiromi ihren Blick vom Fenster abwandte und stattdessen zu Yukio sah. Er saß auf dem gegenüberliegenden Sitzplatz, hatte die Hände auf seinem Schoß gefaltet, wobei er sich noch immer ein wenig über die Daumen strich, und blickte selbst für seine Verhältnisse sehr ernst drein. „Ich frage mich eher, warum du nervös bist? Schließlich reden wir von deiner Familie und deiner Heimat, solltest du dich da nicht wohlfühlen?", erwiderte die Brünette mit einem leichten Schmunzeln. Seit Yukios zwanzigstem Geburtstag waren fast drei Monate vergangen. Drei Monate, in welchen sie nun ein Paar waren. Für Hiro war es zwar nicht das erste Mal, dass sie für jemanden geschwärmt oder Gefühle entwickelt hatte, doch in der Vergangenheit waren diese doch eher leichter und vergleichsweise unbedeutenderer Natur gewesen. Ihr Interesse und ihre Gefühle hatten zuvor nie über eine Verliebtheit hinaus angedauert... Sie empfand das in Yukios Fall anders. Zweifelsohne hatte sie zunächst mächtig für ihn geschwärmt, doch seit dem Sommer schwanden diese Empfindungen. Das hieß jedoch nicht, dass sie keine Gefühle mehr für den schwarzhaarigen Studenten vor ihr übrighatte – ganz im Gegenteil. Sie empfand eine ganz besondere Form der Zuneigung ihm gegenüber, die sie so noch nie kennengelernt hatte. Sie war überaus schön, ließ sie noch immer mit warmen Gefühlen in Brust und Bauch zurück, doch es war anders, als am Anfang. Tiefer...und auch inniger.

Yukio ging es in der Hinsicht ähnlich. Allerdings hatte ihn die Verliebtheit weitaus stärker erwischt als Hiromi. Es war das erste Mal, dass er sich überhaupt in einer derartigen Lebenssituation befand, umso schwieriger war es für ihn, sich zwischen all diesen Gefühlen und Empfindungen zurechtzufinden. Für einen Menschen seinesgleichen, der in allen anderen Lebenslagen ruhig, besonnen und rational war, stellte die Liebe eine ziemliche Herausforderung dar. Allerdings war Yukio niemand, der sich vor Herausforderungen drückte. Es war zwar zunächst überaus peinlich gewesen und die pure Tatsache, dass er Hiromi seine Freundin nennen durfte, war mit einer Menge Verlegenheit einhergegangen, doch allmählich hatten diese Begleiterscheinungen seiner Schüchternheit wieder nachgelassen und er hatte damit beginnen können, sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen. Außerdem glaubte auch er, dass ihn nach seiner Verliebtheit noch mehr erwartete. Er konnte es nicht richtig in Worte fassen, doch es war wie ein Wunsch oder Verlangen, auch in Zukunft noch neben ihr zu gehen und auch ihre Hand zu halten. Aus diesem Grund widmeten sie sich auch ganz langsam den Dingen, die ein gemeinsames Leben auch auszeichneten. Und den womöglich ersten Schritt dafür unternahmen sie in diesem Augenblick: Mit einem Zug der Tōyoko-Linie fuhren sie derzeit nach Kanagawa und dort nach Yokohama. Japans zweitgrößte Stadt stellte nämlich Yukios Heimat dar und in diese fuhren sie, um seine Eltern zu besuchen. Besonders seine Mutter zeigte große Begeisterung dafür, dass er endlich ein Mädchen kennengelernt hatte – um es in ihren Worten zu sagen – und wollte nach drei Monaten die besagte Freundin kennenlernen.

Wrong Numberحيث تعيش القصص. اكتشف الآن