Kapitel 6 - Ein Fettnäpfchen jagt das nächste

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Eine warme Sommerbrise wehte durch den Innenhof der Kawakita Rehaklinik und brachte dabei die Äste und Blätter der vielen Bäume zum Rascheln, die wie ein riesiger Sonnenschirm Schatten über den Hof spendeten. Außerdem trug die Brise den süßen Duft einiger Sommerblumen herüber und brachte letztlich Hiromis langen Haarsträhnen dazu, in Yukios Gesicht zu wehen, was diesen fast schon unliebsam aus seinen Gedanken riss. Fort war sein ernster Gesichtsausdruck, während die junge Frau damit beschäftigt war, ihre Haare wieder zu richten. „Entschuldigung", sprach sie und sah ihm kurz mit einem fast schon verlegenen Lächeln in die Augen, ehe sie ihren Blick wieder abwandte. Eigentlich war sie überhaupt nicht schüchtern, doch sie hatte dem jungen Mann neben ihr Augenblicke zuvor alles offenbart. Und seitdem hatte er nichts mehr gesagt, was sie doch ein wenig nervös werden ließ. „Auf einer Skala von eins bis zehn, wie verärgert bist du?", fragte sie schließlich, da er noch immer nichts sagte. Und sie glaubte nicht, dass es daran lag, dass er schüchtern war. „Ich bin nicht... Warum sollte ich verärgert sein?" Zugegeben, er war zuvor maßlos irritiert und verwundert gewesen; dass sie Okamura Kenichis Schwester war, hatte ihn fast schon ungläubig zurückgelassen und dass er ihr nun auf diese Weise begegnet war, schoss dem Fass nahezu den Boden aus, aber... Er war nicht verärgert. Er konnte verstehen, wieso sie sich so verschwiegen gezeigt und an mancher Stelle auch ein bisschen gelogen hatte. „Es enttäuscht mich höchstens ein wenig, dass du dich mir erst anvertrauen wolltest, als du dich dazu gezwungen sahst. Aber ich weiß nicht einmal, ob diese Enttäuschung gerechtfertigt ist... Wie du dich fühlst, also...", er verschränkte seine Hände, während er sich vorbeugte und seine Arme auf seinen Beinen abstützte, „ich kann es mir nicht einmal im Entferntesten vorstellen."

Yukios Blick fiel erneut auf ihr linkes Bein, an welchem sie eine schwarze Orthese trug, die von ihrer Wade zu ihrem Oberschenkel reichte. Sowohl an diesem Bein, als auch an ihrem linken Arm, waren die Narben des Unfalls und der Operationen zu sehen. Und diese waren ziemlich... „Schau, hier haben sie ein Stück der Patella-Sehne entnommen, mit welchem sie mein Kreuzband nachgebaut haben. Die Narbe hier war die Operation des Knochens; gebrochen war mein Bein ja auch. Die anderen Narben sind vom Unfall." Er hatte nicht erwartet, dass sie auf seinen Blick hin plötzlich anfangen würde, ihre Verletzungen zu erklären. Er hatte in Gedanken nur noch einmal über den Unfall nachgedacht, von welchem sie berichtet hatte. Außerdem... Wie musste sich Okamura gefühlt haben? Er hatte gewusst, dass sein Kamerad über die vorlesungsfreie Zeit nach Akita gefahren war – doch er hatte sich damals nichts dabei gedacht. Und nun saß der Grund für Kenichis einmonatige Abwesenheit neben ihm. „Entschuldige", meinte er dann und blickte etwas verlegen weg. Was dachte er sich dabei, sie so ungeniert anzustarren? Das hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung im Zimmer wie ein absoluter Depp getan, weil er nicht erwartet hatte, dass Hiro so... Also sie war... Er konnte es nicht leugnen: Sie war in seinen Augen unfassbar hübsch. Und das war nicht sonderlich förderlich, mit seiner noch immer existierenden Schüchternheit gegenüber Frauen zurechtzukommen. Er empfand es definitiv einfacher, mit ihr zu reden, wenn sie lediglich telefonierten. Allerdings konnte Yukio auch nicht leugnen, dass es ihn erleichterte, Hiro endlich kennengelernt zu haben. Also...richtig kennengelernt zu haben.

„Möchtest du jetzt noch irgendetwas wissen? Oder habe ich deine Fragen zur Genüge beantwortet?" Soweit Hiromi das beurteilen konnte, hatte sie ihm eigentlich alles Erdenkliche anvertraut. Angefangen bei ihrer Verwandtschaft zu Kenichi, über ihr einstiges Talent im Basketball, ihrer Zeit an der Yōsen und dem Unfall, der sie komplett aus dem Leben gerissen hatte. Über ihre Zeit direkt nach ihrem Koma zu sprechen, war ihr am schwersten gefallen, da sie fürchterlich verbittert und frustriert gewesen war. Das Schlimmste daran war jedoch, dass sie das damals zu einem sehr widerlichen Menschen hatte werden lassen. Dem gegenüber stand die Zeit, als sie ihn, also Yukio, kennengelernt hatte. Hiromi hatte kein Blatt vor den Mund genommen und ihm noch einmal praktisch vorgekaut, wie wertvoll er für ihr Leben geworden war. Obwohl er dies bis vor wenigen Stunden nicht einmal gewusst hatte, war er der Grund, weshalb sie neuen Lebensmut gefasst hatte. Mit einem Schmunzeln hatte sie beobachten können, wie er etwas rot angelaufen war, nachdem sie ihm das gestanden hatte. „Ich hätte tatsächlich noch eine Frage...", hörte sie ihn sagen, was sie dazu verleitete, sich auch nach vorne zu beugen, um ihm fast schon etwas neugierig ins Gesicht zu sehen. „Wie geht es dir?"

Wrong NumberWhere stories live. Discover now