Kapitel 60

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Weihnachten rückte näher. Thanksgiving lag hinter uns und damit begann die, meiner Meinung nach, schönste Zeit des Jahres. Auch wenn Phil und ich als Kinder nie wirklich besinnliche Feiertag erlebt hatten, war die Magie, die überall in der Luft lag, nicht an uns vorbei gegangen.

Doch dieses Jahr spürte ich keine Magie. Noah fehlte mir Tag und Nacht und ich hasste mich selbst für die Entscheidung, mich von ihm fernzuhalten. Wenn wir uns sahen, wich ich seinem Blick meistens aus, als sei ich der größte Feigling der Welt, aus Angst vor dem Ausdruck in seinen Augen. Ich wusste, dass ich keinen Vorwurf in ihnen finden würde, obwohl ich ihn meines Erachtens verdient hatte. Im Gegensatz zu ihm, konnte ich nicht zu meinen Gefühlen stehen, sondern ließ mich von meinen Ängsten und Zweifeln fesseln.

Die anstehenden Semesterabschlussprüfungen waren Fluch und Segen zugleich. Einerseits lenkte mich das Lernen von meinem Schmerz ab, andererseits verminderte der Schmerz meine Konzentration beim Lernen. Meist versuchte ich den Schmerz nachts rauszulassen, doch jetzt, wo die Prüfungen näher rückten, verbrachte auch Maddison die meisten Nächte wieder in unserem Zimmer, und hielt mich davon ab, im Selbstmitleid zu ertrinken und mich lautstark in den Schlaf zu weinen.

Olivia, Hailey und sogar Phil, der meinen Kummer bemerkte, obwohl ich ihm nichts von der Nacht mit Noah erzählt hatte, waren für mich da und machten den Schmerz erträglich. Ab und an erwischte ich Olivia dabei, wie sie mich mit einem sehr nachdenklichen Blick betrachtete. Doch jedes Mal wenn ich sie fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei, winkte sie ab oder begann, über das Wetter zu sprechen. Immer wieder war ich kurz davor, sie zu fragen, wie es Noah ging, denn ich war mir absolut sicher, dass die Freundschaft der beiden weiterhin Bestand hatte. Aber ich fragte nicht. Was würde sich dadurch schon ändern? Immer wenn ich Noah im Coffeeshop, in Bennets Kurs oder auf dem Campus entdeckte, sah er in erster Linie gestresst aus, genauso wie jeder andere Student zum aktuellen Zeitpunkt. Er ignorierte mich nicht, aber er wechselte auch nicht mehr Worte mit mir, als unbedingt nötig. Ob es ihm gut ging oder nicht, war daher etwas schwer zu sagen. Auch ich versuchte mir in seiner Gegenwart nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich ihn vermisste.

Die Abschlussprüfungen verteilten sich über zwei Wochen und liefen besser, als von mir erwartet. Das befreiende Gefühl, als ich am Freitag meine letzte Prüfung geschafft hatte, ließ mich für einen kurzen Moment alles andere vergessen. Bei den anderen lief es ebenfalls gut, sodass die stressige, angespannte Atmosphäre sehr schnell Platz für eine fröhliche, vorweihnachtliche Stimmung machte. Obwohl niemand den Sinn des Ganzen verstand, hatten wir nach unseren Prüfungen noch drei Tage lang Kurse, bevor wir uns alle auf den Weg in die Heimat machen würden.

„Hast du schon deinen Pullover bereit gelegt?", fragte ich Phil, als wir am Abend vor unserer Abreise beim Abendessen saßen. Bei uns zuhause war Tradition, dass wir bis Weihnachten jeden Tag einen weihnachtlichen Pullover trugen. Eine Tradition, die Mia und Phil selbstverständlich meiner Wenigkeit zu verdanken hatten. Da unser Flug früh morgens startete und wir gegen Mittag in Boston ankommen würden, ergab es für mich am meisten Sinn, den Pullover bereits auf dem Flug anzuziehen und von dieser Idee wollte ich nun auch Phil überzeugen.

Mein Bruder verdrehte die Augen. Seine Begeisterung für die von mir eingeführte Tradition hielt sich in Grenzen, doch er beugte sich ihr jedes Jahr brav. „Muss das echt sein?", fragte er und sah mich dabei an, als würde ich ihn bitten, jemanden für mich umzubringen.

„Ja, das muss sein. In ein paar Tagen ist Weihnachten, das muss angemessen zelebriert werden!"

Phil zog eine Grimasse, doch ich wusste, dass er morgen früh einen Weihnachtspulli tragen würde. Wie sich in letzter Zeit oft gezeigt hatte, übertrieb er es manchmal mit seinen Funktionen als großer Bruder, doch das bedeutete auch, dass er mir kaum jemals eine Bitte abschlagen konnte. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen das auszunutzen, doch in Momenten wie diesem war ich sehr dankbar dafür.

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