010 | noah

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ich hab so lang gewartet
dass irgendwas kommt, aber nichts von dir kam

⋆.ೃ࿔*:・

Der Weg von unserem Zimmer bis zu der kleinen Mauer am Rande des Geländes dauerte in normalem Tempo und ohne Unterbrechungen etwa 10 Minuten. 12 Minuten wenn man auf dem Weg stolperte und sich dann die Schuhe neu zubinden musste. Ich wusste das, weil ich in den vergangenen Tagen verdächtig oft zu dem kleinen Wäldchen gelaufen war. Und das ohne triftigen Grund.

Heute brauchte ich 20 Minuten, da ich alle zehn Meter stoppte und überlegte, ob es besser war, einfach wieder zurück zu gehen und Identitätsdiebstahl anzuklagen. Außerdem stolperte ich dreimal über meine eigenen Füße, da ich zu abgelenkt damit war, mir zu überlegen, was ich sagen würde. Ich hatte selbst keine Ahnung, wieso ich geglaubt hatte, ein direktes Treffen wäre am besten. Meine Finger waren schneller gewesen als mein Kopf.

Jetzt hatte ich aber wirklich keine Wahl mehr. Nur ein paar Meter von mir entfernt saß Colin. Er sah irgendwie anders aus als sonst. Kleiner. Zusammengezogener. Es war ein seltsamer Anblick, einer, den ich am liebsten aus meinem Kopf aussperren würde. Mit einem dicken Schloss.

Ich räusperte mich und sofort drehte Colin sich um und rückte ein Stück zur Seite. Schon war er wieder groß. Die Veränderung erinnerte mich an meine Mutter, welche ich als Kind manchmal allein überrascht und jedes mal überlegt hatte, warum sie in der Abwesenheit von anderen so anders aussah. Müde, kaputt, klein. Sie hatte sich auch immer verändert, sobald sie mich bemerkte. Nur mit dem Unterschied, dass Colin mich jetzt nicht anlächelte und seine Augen kalt waren. Dabei hatte er sonst die wärmsten Augen der Welt.

„Hey", sagte ich knapp und setzte mich neben ihn, bewusst einen gewissen Abstand zwischen uns haltend. Es war beinahe als wären wir Magnete vom gleichen Pol. Nur, dass wir das vorher nicht gewesen waren.

„Hey", echote Colin und stellte einen Teller mit einer und einer halben Waffeln zur Seite.

„Krass, sind die nicht immer total früh weg?", fragte ich obwohl mir bewusst war, wie sinnlos die Frage erschien. Es war dieser seltsame Drang der herantastenden Höflichkeit, den ich sonst nur bei fremden aber sympathischen Personen verspürte. Colin sollte nicht so jemand sein. Aber er war es. Wie ein Magnet stieß er mich ab.

„Ja, die eine war für Julia. Willst du?" Zugegeben, mit diesem Angebot hätte ich nicht gerechnet.

„Gerne." Er gab mir den ganzen Teller und behielt das Stück, was er wohl zuvor übrig gelassen hatte. „Julia hatte wohl keine Zeit?"

„Ich hab unser Treffen vercheckt, ist keine große Sache." Er sah nicht überzeugt aus, was mich nicht überzeugte. Aber es ging mich ja nichts an.

Stumm biss ich ein Stück von der Waffel ab und kaute vor mich hin, ohne mich zu Colin zu drehen. Ihn schien das nicht zu stören, da er selbst auf die Knie gestützt in die Ferne blickte. Es gab Momente im Leben, die es verdient hatten, in einem Marmeladenglas festgehalten zu werden. Kleine, perfekte Momente, die man später wieder öffnen kann, wenn man einen perfekten Moment am meisten braucht. Das zumindest hatten mir Die Wilden Hühner verklickert als ich ungefähr fünf gewesen war. Für lange Zeit hatte ich diesen Gedanken für ziemlich bescheuert gehalten, was hauptsächlich damit zusammenhing, dass es in meiner Familie nur Perfektion gab, aber keine Momente oder Einmachgläser. Und obwohl das Konzept deswegen immer befremdlich auf mich gewirkt hatte, konnte ich mich bis heute noch genau daran erinnern.

Als ich nicht mehr fünf war und langsam aus meiner Mädchen-und-alles-was-sie-mögen-ist-scheiße-Phase herauswuchs, realisierte ich, dass es in meinem Leben durchaus solche Marmeladenglasmomente gegeben hatte. Da war der Skiausflug mit meinen Eltern. Sie hatten sich die gesamte Zeit über gestritten, aber es gab einen Tag, einen Moment auf der Rodelbahn, an dem meine Mutter hinter mir auf dem Schlitten gesessen und mich fest umklammert gehalten hatte. Auch damals war mir bewusst gewesen, dass das etwas besonderes war. Und, dass mein Vater am Ende der Piste warten würde, um uns wegen irgendwelcher Regeln, oder unserer Kleidung, vielleicht auch dem alten Holzschlitten zurechtzuweisen. Aber genau deswegen war dieser Moment so besonders. Weil in diesem einen Augenblick sowohl Vergangenheit als auch Zukunft egal gewesen waren.

𝙀𝙓𝙄𝙇𝙀 ⁿᵒˡⁱⁿWhere stories live. Discover now