57 | noah

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ich kann dich nicht vergessen
wenn ich's könnte, würd ich's lassen

⋆.ೃ࿔*:・

Es hatte ganze 15 Minuten gedauert, bis ich es endlich geschafft hatte, meine Reisetasche vom Schrank hinunter und dann auf mein Bett zu befördern. Auch ohne Inhalt war das Ding locker zehn Kilo schwer und obwohl ich regelmäßig zum Karate-Training ging, ließen meine Armmuskeln zu wünschen übrig.

Im Gegensatz zu der Tasche wog der Inhalt meines Kleiderschrankes vermutlich überraschend wenig. Beim Einräumen vor ein paar Monaten war es mir kaum aufgefallen, aber vor der Abreise hatte ich scheinbar wirklich noch geglaubt, nach maximal zwei Wochen wieder hier weg zu sein. Hätte ich damals gewusst, was alles noch passieren würde, hätte ich sicherlich mehr als nur vier T-Shirts eingepackt.

Ich seufzte angestrengt und begann, gedankenverloren mein Bücherregal auszuräumen. Wer vor der Englischstunde noch nichts von meiner komplizierten Beziehung zu Colin gewusst hatte, tat es spätestens jetzt – schließlich war mir mehr als nur einmal aus versehen sein Name über die Lippen gerutscht und allein Joels Blick hatte wohl Bände gesprochen.

Umso erleichterter war ich, dass meine Eltern mir am frühen Morgen geschrieben hatten, dass sie noch heute Abend einen Fahrer vorbei schicken würden, um mich nachhause zu bringen. Dabei war der Gedanke, meinen Eltern meinen Sinneswandel erklären zu müssen, ein ziemlicher Alptraum. Nachhause wollte ich ja gar nicht; nur weg von allem und allen. Wenn es überhaupt noch eine Chance gab, dass ich all das hinter mir lassen könnte, dann war es jetzt an der Zeit, sie zu nutzen. Obwohl ich nicht glaubte, dass es jemals einen Teil von mir geben würde, dem Colins Lächeln nicht in die Rippen gebrannt war.

Auf einmal wurde die Zimmertür aufgestoßen und ich fuhr erschrocken herum. Keine Ahnung, wen ich erwartet hatte, schließlich war Frau Schiller bereits informiert und Colin noch bis morgen im Krankenhaus, aber ich schaute Joel ziemlich verdattert an.

„Hast du eigentlich vor mir noch zu erklären, was du da heute morgen gemacht hast?", fragte er aufgewühlt. Er ließ seine Mathe-Sachen auf sein Bett fallen und stellte sich mit verschränkten Armen ans Ende meines Betts. „Was, wenn ich einen blackout gehabt hätte?"

„Wir wissen beide, dass das niemals passieren würde", entgegnete ich knapp und wandte mich wieder meinen Büchern zu. Irgendwie wollten sie nicht in die Tasche passen, wie ich mir das vorstellte. Dabei hatte ich mir in der gesamten Zeit auf dem Einstein keine neuen dazu gekauft.

Joel machte ein empörtes Geräusch mit seiner Zunge, als er bemerkte, dass ich nicht mehr dazu zu sagen hatte. Erst dann schien ihm aufzufallen, was ich überhaupt gerade tat.

„Was machst du da? Packst du?"

„Offensichtlich."

„Wieso?" Ich warf ihm einen resignierten Blick zu, der ihn eigentlich fragen sollte, ob er wirklich blöd war oder nur so tat. Sein leerer Gesichtsausdruck ließ Ersteres vermuten.

Ich seufzte schwer und schloss die Seitentasche der Bücher mit einem kräftigen Ruck. „Ich fahre nachhause."

„Wie... Was?" Sonderlich traurig klang er nicht, aber wenigstens seine Verwirrung schien echt zu sein. Ich seufzte erneut.

„Kannst du es dir nicht denken?"

„Nein. Kann ich nicht. Ist es wegen dem Vortrag? Ich hab nicht gedacht, dass du so einfach wegrennen würdest." Das kratzte dann doch ein bisschen an meinem Ego. Ich drehte mich zu ihm um und schubste ihn leicht nach hinten.

„Tja, aber so bin ich eben. Wenn es ernst wird, hau ich ab. Kannst du mich jetzt in Ruhe lassen?" Er sah mich eine Weile lang mit leerem Blick an.

„Du hast eins vergessen." Er nahm wortlos Colins Ausgabe von The Perks Of Being A Wallflower von seinem Bett und warf es mir zu. Ein paar Seiten knickten, als ich es auffing und ein Zettel fiel heraus, den ich schnellstens wieder hinein stopfte.

Gerade wollte ich etwas sarkastisches oder potentiell beleidigendes sagen, als die Tür erneut aufgestoßen wurde; diesmal mit voller Wucht. Ich spürte förmlich, wie meine Kinnlade hinunter klappte, als ich Colins verhetztes Gesicht erblickte. Er hatte ein Pflaster auf der Stirn, dort, wo er gegen die Bettkante gestoßen war und ich war mir ziemlich sicher, unter seinem Pullover den Kragen seines Klinik-Outfits sehen zu können.

„Was..." Was machst du hier? Das hatte ich fragen wollen. Aber bevor ich den Gedanke überhaupt zu ende denken konnte, war er mir bereits um den Hals gefallen.

„Bitte", flüsterte er in meine Halsgrube, „bleib hier. Patrick hat Brad verziehen. Brad muss nur noch sich selber verzeihen." Ich runzelte verwirrt die Stirn. Joel, der immer noch neben uns stand hielt sein Handy hoch und deutete auf die Kamera. Dann warf er sich imaginäre Haare über die Schulter und tat so, als würde er etwas filmen. Julia.

„Du... hast das alles gehört?", fragte ich unsicher nach, woraufhin er sich von mir löste.

„Jedes Wort. Ist das schlimm?" Er sah mich mit einem spielerischen Grinsen an, woraufhin ich eine Grimasse zog.

„Das kommt ganz darauf an..." Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, was er zuerst nicht zu verstehen schien. Für seinen Geschmack hatte er sich wohl schon eindeutig verhalten.

„Brauchst du es wirklich noch offensichtlicher?", fragte er mit einem amüsierten Unterton, der mich aufatmen ließ. Als ich meinen Blick zwischen seinen Lippen und seinen Augen hin und her flimmern ließ, bemerkte ich zufrieden, wie sich nervös seine Hände verkrampften.

Ich kam ihm ein bisschen näher – es hätte beinahe kein Blatt Papier mehr zwischen unsere Gesicht gepasst – und lächelte ihn herausfordernd an.

„Ein klitzekleines Bisschen offensichtlicher, vielleicht."

Zuerst sah er etwas erschrocken aus, dann kniff er die Augen zusammen und schüttelte mit einem sanften Grinsen den Kopf.

„Na gut." Und schon griff er nach meinem Hinterkopf und küsste mich. Ganz ohne Vorwarnung. Ganz ohne sich unsicher umzusehen. Ganz ohne Angst. Und ich küsste ihn ebenfalls; ganz ohne alles außer Erleichterung, Freude und verdammt nochmal Liebe.

Ich hatte keine Ahnung, wie lang das ganze dauerte. Zwischendrin umarmten wir uns wieder ganz fest, dann küssten wir uns wieder. Und erst, als wir uns schwer atmend von einander lösten, bemerkten wir, dass Joel noch immer neben uns stand.

Wir sahen zeitgleich zuerst ihn und dann uns an, woraufhin wir beide lachen mussten. Colin hatte einen Arm immer noch um meine Schultern gelegt, als habe er Angst, ich könne ihm entwischen. Joel war offensichtlich hoffnungslos auf der Suche nach Worten oder, realistischer, einer Chance zu fliehen.

„Äh, also...", begann Colin mit einem leichten Lachen und sah mich hilfesuchend an. Mir kam eine Idee, weshalb ich Joel mit absoluter Selbstverständlichkeit anschaute. Mein Arm hielt Colin an der Taille eng neben mir – nicht aus Angst, sondern voller Stolz.

„Weißt du, Joel, du hattest absolut recht. Die... wie hast du es ausgedrückt? Abwechslung und Stimulierung unserer kognitiven Fähigkeiten sind wirklich wahnsinnig wichtig. Wir sollten unsere Betten verschieben. Oh, welch ein Zufall, so würden wir ja von nun an nebeneinander schlafen!" Colin und ich sahen uns gespielt verdattert an, begannen aber zu lachen, sobald wir Joels resignierten Blick bemerkten.

„Ist gut, ich habe es verstanden." Er grummelte noch etwas vor sich hin, was zumindest Ähnlichkeiten mit „herzlichen Glückwunsch" aufwies. Dann erwähnte er, er habe etwas in der Cafeteria stehen lassen und öffnete die Tür. Als ich Colin aber gerade in einen weiteren Kuss ziehen wollte, steckte Joel erneut seinen Kopf durch den Spalt in das Zimmer und sah uns ernst an.

„Ach so", sagte er, seine Stimme wieder selbstbewusst wie eh und je, „Das nebeneinander Schlafen könnt ihr übrigens absolut vergessen."

𝙀𝙓𝙄𝙇𝙀 ⁿᵒˡⁱⁿWhere stories live. Discover now