Kapitel 1 - Der Lotuskalmar

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Ein Blick über den Atlantischen Ozean am frühen Morgen fühlt sich an, als würde man einen belebenden Schluck Unendlichkeit nehmen. Der nahende Tag schickt die Sonne als stille Botschafterin, die durch die Wolken bricht und ihr rotgoldenes Licht über die unberührte tiefblaue Wasserdecke wirft.

„Meinst du, wir werden im Bermudadreieck verschwinden?"

Dunkelbraune Augen sehen mich erwartungsvoll an. Ich nehme meinen Blick von dem allmorgendlichen Wunder der Natur.

„Quatsch. Es ist doch bloß ein Mythos, dass es hier im Atlantik sein soll. In Wahrheit befindet es sich nämlich in deinem Zimmer. Man sagt, dass alles, was je seinen Weg dorthin gefunden hat, nie wieder mehr aufgetaucht ist."

„Spinner", zischt Alani und stößt mir den Ellbogen in die Rippen. Sie lacht und ihre Augen lachen mit. Galgenhumor war schon immer das, was uns beide verbunden hat. Während unseres gemeinsamen Trainings und in den endlosen Nächten am Lagerfeuer auf Hawaii.

„Tja, ich hoffe, dass du damit recht behältst", erwidert sie nun ernst. „Denn wir haben eine wichtige Mission zu erfüllen. Da können wir es uns echt nicht leisten, im Nirvana zu verschwinden."

Und plötzlich lacht sie wieder. Mit Unbehagen blicke ich durch das Glas der Kuppel, die uns umgibt und denke an die glitschige, irisierende Haut und die leer starrenden Augen des ersten Lotuskalmars, den ich in meiner Grundausbildung vor zehn Jahren zu Gesicht bekommen habe. Ein längst erlegtes, konserviertes Exemplar, das keinem Menschen mehr schaden kann. Aber trotzdem hatte mir der Anblick einen beißend kalten Schauer über den Rücken gejagt. Wie scharfe metallische Krallen, die einem die Haut aufkratzen. Der brutale große Bruder der Gänsehaut.

Ich schaue wieder zu Alani, die sich eine feuerrote Hibiskusblüte ins schwarze Haar gesteckt hat. Die Blume bildet optisch und stilistisch einen scharfen Kontrast zu ihrem nachtblauen Neoprenanzug und der Mission, die wir erfüllen sollen. Ich sehe an mir herunter. Meine Schwimmflossen sind mir eine Nummer zu eng. Diana hat bei der Bestellung einen Fehler gemacht und ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass das kein bloßer Flüchtigkeitsfehler gewesen ist. Alani bemerkt meinen Blick und lächelt.

„Sie ist doch bloß neidisch. Wer würde sich nicht gerne damit brüsten, einen Lotuskalmar erlegt zu haben? Das ist wie ein Ritterschlag. Mach dir nichts draus, Keanu."

Ich lächle gequält und erinnere sie daran, dass ihre Flossen ihr zumindest passen. Leise rauscht der Motor des Bootes, das uns immer weiter auf den Atlantik bringt. Augenscheinlich fahren wir der Sonne entgegen, doch das ist nur der Schein, der trügt. Sie ist viel zu weit weg, unerreichbar. Egal wie schnell wir ihr hinterher fahren würde, einholen könnten wir die Sonne am endlosen Horizont niemals. Während wir uns immer weiter von der Küste Puerto Ricos entfernen, bleibt uns der Feuerball unverändert fern.

Ich bemerkte, dass Alani denselben Gedanken gefasst haben könnte. Sie schaut geistesabwesend in Richtung des glühenden Balls. So ruhig und abgeklärt wie sie ist, bin ich mir beinahe sicher, dass sie vorher etwas eingeworfen hat. Und das, obwohl ich es besser wissen müsste. Dieses Mädchen ist quasi angstfrei. Alani ist die jüngste Meerjägerin, die ich je gesehen habe. Gegen meine guten zehn Jahre Berufserfahrung hat sie vielleicht zehn Monate entgegenzusetzen, doch sie erinnert mich jedes Mal daran, warum sie es würdig ist, auf diese Mission geschickt worden zu sein. Wenn auch nur kurz vor knapp.

Die Mission. Und da bin ich schon wieder mit meinen Gedanken. Die Mission und dieser verdammte Lotuskalmar. Der letzte dieser Art fristet weit unten sein bedrohliches Dasein. Hier, in der Tiefe des Atlantischen Ozeans. An der tiefsten Stelle, die laut Echolot mehr als acht Kilometer unter der Meeresoberfläche liegt. Weitaus tiefer als je ein Mensch tauchen könnte, weshalb man sich auf den ermittelten Wert verlassen muss. Mehr als acht Kilometer. Ich persönlich bin nicht ganz überzeugt davon - für mich sieht es so aus, als hätte der Atlantik überhaupt keinen Boden. Wie dem auch sei, ein Mensch würde diese Tiefe sowieso nie zu Gesicht bekommen. Die Bewusstlosigkeit würde ihn nach einem kleinen Teil des Weges in seine unentrinnbaren Fänge nehmen. Weshalb wir auch den richtigen Zeitpunkt abwarten mussten, bis sich das Ungeheuer endlich nahe der Wasseroberfläche zeigen würde.

Die Jagd nach dem Lotuskalmar [pausiert]Where stories live. Discover now