Kapitel 3 - Steinrelief

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Den größten Teil meiner Kindheit habe ich bei meinem Großvater in dessen gemütlicher Hütte verbracht, weil die Beziehung meiner Eltern vor meiner Geburt zerbrach und sich niemand so recht um mich kümmern wollte, außer dem alten Mann mit der Statur einer Vogelscheuche und dem Herzen aus Gold. Und so lebte ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr bei ihm. Bei Opa Nakoa, der in seinen Zwanzigern von der kleinen Siedlung Kahului nach Pearl City zog, um auf einer Zuckerrohrplantage zu arbeiten. Der dort seine große Liebe fand, die der Ozean ihm dreißig Jahre später nehmen sollte. Opa Nakoa, dem die Weisheit schon mit vierzig Jahren die Farbe aus den Haaren gezogen hatte.

Ich mochte den alten Kauz, weil er mich nie belehrte. Und ich hasste die Schule, weil ich mir dort vorkam wie ein Klumpen Ton, den die Lehrer nach ihrem Belieben formen wollten. Dabei haben sie nie erkannt, dass ich kein matschiger Haufen Lehm war, sondern ein harter Kalkstein. Ich war kein aufsässiger Schüler, ich habe nie größere Probleme gemacht. Aber ich habe mir auch nichts sagen lassen. Mit meinem eigenen Willen bin ich hier und da immer wieder angeeckt. Autoritätspersonen habe ich nicht selten mit dem Gefühl zurückgelassen, als hätten sie sich den Zeh an einem Tischbein gestoßen. Nichts Großes, kein Entsetzen, aber latent unangenehme Eindrücke habe ich immer hinterlassen.

Die Pause war mein Lieblingsfach und den Schulschluss konnte ich kaum erwarten. Bei Opa Nakoa durfte ich fast alles, was für die anderen Kinder verboten war. Eines dieser Dinge waren Westernfilme. Nach dem Abendessen klopfte Opa Nakoa mit einer Schüssel Popcorn in der einen Hand einladend auf den leeren Platz neben sich auf der Couch und wir schauten uns einen dieser Filme an, in denen geschossen, geprügelt und geknutscht wurde - also alles Dinge, die Erwachsene vor Kinderaugen zu verbergen suchten.

Aber nicht Opa. Er lachte, wenn jemand auf kreative Weise niedergestreckt wurde, er lehnte sich gebannt auf den Bildschirm schauend vor, wenn der erste Colt gezogen wurde und er lächelte selig, wenn der beste Cowboy am Ende seine Joanne oder Mary küsste. Oder er nickte zufrieden, wenn der größte Outlaw des ganzen Countys vom Sheriff höchstpersönlich hinter Schloss und Riegel gesteckt wurde. Und das bedeutete meistens, dass er in eine winzige Zelle gesperrt wurde, in die man durch die Gitterstäbe hineinschauen konnte wie in einem Zoo.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass, wer auch immer für die provisorischen Gebäude verantwortlich ist, auch diese Filme geschaut haben muss. Denn ich finde mich gerade in einer exakten Kopie eines Zellentrakts im Stil der sepiafarben flimmernden Western wieder. Ein Brett an der Wand, ein Eimer in der Ecke. Letzterer macht mir vielleicht am meisten Angst. So provisorisch wie diese Zellen aussehen, machen sie auf mich den Eindruck, als habe man nicht damit gerechnet, sie benutzen zu müssen.

Jede der zehn Zellen ist leer mit der Ausnahme von zwei - die beiden, die von einem erbärmlichen Duo unwissender Straftäter besetzt ist. Die eine am Anfang des Gangs und die eine am Ende. Man hat versucht, Alani und mich möglichst weit auseinander unterzubringen. Ein feistes Kerlchen mit klirrendem Schlüsselbund am Gürtel watschelt ab und zu den Gang entlang und schaut zuerst argwöhnisch zu mir hinein, bevor es seinen Spaziergang zu Alanis Zelle fortsetzt. Man will verhindern, dass wir beide allzu angeregte Gespräche führen.

„Hey, komm nochmal her!", ruft Alani, kurz nachdem das Klösschen seinen Spaziergang zum Ende des Ganges und wieder zurück beendet hat. Ich trete an meine Tür heran und sehe, wie sie vor ihrer steht und die Gitterstäbe umfasst. Genau so, wie es die Gangster in den Filmen tun, die schon einen Fluchtplan aushecken. Oder die Unschuldigen. Auf welcher Seite stehen wir eigentlich?

Obwohl es noch derselbe Tag ist, sieht meine Kollegin ganz anders aus. Oder nicht? Habe ich die exotische Schönheit mit ihren langen schwarzen Haaren und der leuchtend roten Hibiskusblüte im Haar an diesem Morgen einfach nur durch die rosarot getönten Gläser einer realitätsverzerrenden Brille betrachtet? Was haben mir meine eigenen Augen vorgespielt? Ich habe das gesehen, was ich sehen wollte: eine sich anbahnende Liebe.

Die Jagd nach dem Lotuskalmar [pausiert]Where stories live. Discover now