Kapitel 6 - Asopao

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Wenn ich mir einen Ort ausmalen könnte, an dem ich meinen Lebensabend verbringen will, dann sähe dieser genau so aus wie das kleine Dorf, das wir betreten. Niedliche Hütten, die mit getrockneten Palmenblättern gedeckt sind, stehen fleckenartig nebeneinander. Die Abstände sind willkürlich, so wie scheinbar alles hier. Ein dunkelbraun geschecktes Pferd trottet uns entgegen, wie ein müdes ein-Mann-Empfangskomittee. Sein Kopf schaukelt träge auf und ab, es bedenkt uns mit einem kurzen Blick und entscheidet dann, dass Alani und ich nicht interessant genug sind, um noch mehr Zeit in unserer Gegenwart zu verbringen.

Menschen sehe ich hier kaum. Vielleicht liegt es an der Hitze. Was würde ich darum geben, endlich den feuchten, an meinem Körper klebenden Neoprenanzug loszuwerden ... Ich kann mich selbst kaum noch riechen und mir ist es allmählich richtig peinlich, so unter Leute zu gehen. Wobei es eigentlich ganz witzig ist, sich wegen so etwas zu genieren, während das Damoklesschwert über einem schwebt, in dessen Klinge sich eine sehr, sehr lange Haftstrafe spiegelt.

Ob Alani denselben Gedanken hat? Ich habe sie nie als eitel kennengelernt. Ganz im Gegensatz zu Diana, die ihre blonden Haare sogar zum Training in die erstaunlichsten Frisuren zwängt. Es ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass jemand, der von Natur aus mit so einer Schönheit gesegnet ist wie Alani, kaum Wert darauf legt, wie er von außen wahrgenommen wird. Doch vielleicht ist gerade das das Geheimnis ihrer anziehenden Ausstrahlung.

Eine bunt gekleidete alte Frau sitzt auf einem aus Bambus gefertigten Schaukelstuhl und schaut gedankenverloren geradeaus, während sie sich mit sanften Bewegungen immer wieder vom Boden abstößt. Ihre Augen sind zusammengekniffen, obwohl sie im Schatten sitzt. Es sieht aus, als würde sie gleichzeitig versuchen, etwas weit entferntes erkennen zu können, dabei jedoch keinen fixen Punkt zu fokussieren. Sie hat Zeit, das sehe ich. Unendlich viel Zeit, den ganzen lieben Tag vor der Tür zu sitzen und zu schauen, wer vorbeiläuft. Ich frage mich, wo ich in ihrem Alter sitzen werde? Auf dem Schaukelstuhl vor meiner Haustür oder in einer engen Zelle?

„Lass uns diese Frau fragen, ob wir etwas zu trinken haben können", schlage ich vor, denn die menschlichen Bedürfnisse haben sich schon lange gemeldet. Alani zögert, bevor sie schließlich zustimmt. Ich kann mir denken, welche Zweifel sie hat: Man könnte auf unsere nicht zu übersehenen Fußfessel aufmerksam werden. Und Verdacht schöpfen. Und uns verraten. Andererseits sehen wir insgesamt nicht sonderlich unauffällig aus, mit unseren strahlend blauen Neoprenanzügen.

„Buenos días", grüße ich, als wir uns nähern. Die Frau dreht den Kopf in meine Richtung und ich sehe die tausend Falten in ihrem Antlitz und unzählige Jahresringe, die sich furchig um ihren schlanken Hals ziehen. Ihre Augen scheinen fast von einer Lawine weicher, eingefallener Haut unterhalb ihrer Augenbrauen bedeckt zu sein. Ich kann nicht einmal ihre Iris erkennen, was mich sehr irritiert. Es ist, als würde man mit jemandem sprechen, der die Augen die ganze Zeit geschlossen hält. Ich bin versucht, sie zu fragen, ob sie mich sehen kann, widerstehe aber dem Drang. Sie erwidert meinen Gruß leise und schnell und es klingt, als ob die beiden Wörter nur eines wären.

„Wir ... wir wollten fragen, ob wir etwas zu trinken bekommen könnten", trage ich unser Anliegen vor und schäme mich gleichzeitig, diese gebrechliche Frau um einen Gefallen zu bitten. Von Nahem sieht sie noch fragiler aus, als ich gedacht hatte. Die bunten Leinengewänder hängen wie an einem Drahtgestell, sodass man die Konturen ihrer schmalen Silhouette nur erahnen kann. Diese Frau sieht aus als habe sie der ganzen Welt ihr Leben lang nur Gefallen getan und der einzige Gefalle, den sie von der Welt forderte, war ein bisschen Ruhe.

„Wenn Sie so nett fragen, junger Mann ...", gibt sie schelmisch zurück und ihre schmalen Lippen lächeln das sanfte Lächeln eines jungen Mädchens.

„Aber nur, wenn es keine Umstände macht!", lenkt Alani ein, als sich die Frau mühsam aus ihrem Stuhl erhebt.

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⏰ Dernière mise à jour : Oct 27, 2023 ⏰

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Die Jagd nach dem Lotuskalmar [pausiert]Où les histoires vivent. Découvrez maintenant