Neuanfang

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24. August 1998, Berlin Spandau:

POV Dag

Ab heute wird sich ihr Leben grundsätzlich verändern. Es sind zuviele Jahre vergangen, als dass Dag und Vincent ihrem Umfeld noch glaubhaft verklickern könnten, dass sie gute Gene haben. Für die meisten Bekannten müssten sie bereits über 50 Jahre alt sein. Die Trennung von Grace riss Vincent in ein tiefes Loch. Er trauerte, wie es Dag noch nie bei ihm erlebt hatte. Nach einigen Monaten kam er dann mit einer Idee zu seinem besten Freund: "Lass uns neu anfangen. Ich möchte studieren und dieses Mal auf einem herkömmlichen Weg. Nicht, wie du damals ein Zeugnis fälschen. Aber dafür müsste ich das Abitur bestehen."

Dag runzelte die Stirn. Sein Kumpel interessierte sich doch früher auch nicht für Schule oder ein Studium. Woher der Sinneswandel? Bisher schlug dieser sich mit verschiedenen Tätigkeiten durch sein Leben. "Das klingt doch nach einem guten Plan. Du schaffst das", ermutigte er Vincent. "Ich habe gedacht, dass du mitkommst", ging der Größere darauf ein. Er soll auch das Abitur machen? Falsche Reihenfolge oder? "Ähm, Bruder, das wäre ein Rückschritt für mich. Ich habe ein fertiges Medizinstudium und einen Doktortitel. Das ist dir schon klar oder?", rechtfertigte er sich.

"Aber Dag, willst du dich wieder in einem anderen Krankenhaus bewerben? Hast du vielleicht mal daran gedacht, dass es unglaubwürdig ist, dass du in deinem offensichtlichen Alter soviel Wissen und Erfahrung hast?", merkte Vincent an. Das scheint tatsächlich ein guter Punkt zu sein. Vielleicht sollten sie wirklich nochmal neu beginnen? So willigte Dag ein. Sie fanden einen pensionierten Gymnasiallehrer, welcher Ihnen alles beibrachte, was sie für ihren ersten Tag an der Schule wissen und können mussten.

Heute ist es also soweit. Zurück in Spandau. Das weckt alte Erinnerungen. Er war lange Zeit nicht mehr hier. Auf dem Weg hier her, stellte er bereits fest, dass sich vieles verändert hatte. "Hey, Vincent!", ruft Dag und läuft auf seinen besten Freund zu. Dieser reißt die Augen auf und starrt ihn an. "Wie siehst du denn aus?", fragt Vincent nach einer kurzen Schockstarre. Dag zupft an seinem schwarz-rot gefärbten Irokesenschnitt, den er sich extra zugelegt hatte. Damit hätte Vincent jetzt wohl nicht gerechnet.

"Du meintest, dass wir uns an die Jugend anpassen sollten. Ich bin jetzt Punk, wie 'Die Ärzte'. Du siehst aber auch anders aus", verkündet er stolz und drückt seine Zigarette an einem Mülleimer aus. Sein Kumpel hatte genauso die Seiten abrasiert und oben blond gefärbte Locken. Vincent lacht und meint: "Dann hatten wir ja dieselbe Idee. Deine Frisur war mir etwas zu gewagt. Kannst du deinen Text und hast du den Informationsbogen dabei?"

Dag nickt und spult herunter: "Ich bin Dag-Alexis Kopplin, geboren am 15.07.1983 in Spandau. Bis vor den Ferien ging ich noch in Hamburg zur Schule und ich bin mit meiner Mutter wieder hierhergezogen. Sie ist heute leider verhindert." "Dag-Alexis?", fragt der Blondschopf. Warum stellt er das jetzt so in Frage? "Ja, das ist mein ganzer Name. Also eigentlich Dag-Alexis von Kopplin", erklärt Dag und rollt mit den Augen. "Das hast du nie erwähnt", bringt sein Kumpel ein. "Echt nicht? Naja, jetzt weißt du es."

Vor ihnen strömen einige Schüler schon in das Gebäude des Kant-Gymnasiums. Schwerpunkt Musik und Sprache. Auf den ersten Blick hatte Vincent eine gute Wahl getroffen. Für beides interessiert sich Dag. Im Gymnasium schnuppert er. Soviele verschiedene Düfte. Gutes und schlechtes Blut. Schon verführerisch, aber es sind größtenteils Kinder. Das ist ein Tabu. Seit er seine Anstellung im Krankenhaus schweren Herzens kündigen musste, holt er sich wieder auf die altbekannte Art sein Lebenselixier. Frauen verführen und von ihrem Hals naschen. Natürlich an verschiedenen Orten, damit dies nicht für die Öffentlichkeit auffällt.

"Tach, wo finden wir denn das Rektorat?", fragt Vincent einen dunkelhaarigen Teenager mit Brille. "Tach, hier nach links und am Ende des Ganges die Türe auf der rechten Seite", erklärt dieser und zeigt in die genannte Richtung. Sie bedanken sich und klopfen kurz darauf an der besagten Türe. Diese öffnet sich im selben Moment und ein mittelalter Mann bittet sie einzutreten: "Guten Morgen. Dag und Vincent, nehme ich an? Ich bin Oberstudienrektor Wolfgang Gründer." Nach einer halben Stunde und etwas Manipulation wurden Vincent und Dag final als Schüler an diesem Gymnasium angenommen.

Soviel dazu, dass Vincent es auf herkömmlichen Weg handeln wollte. Aber gut, sie geben sich jetzt als 15-Jährige aus und demnach werden für viele Dinge und Entscheidungen eigentlich die Eltern gebraucht. Ob das ein Fehler war? Wird man ihnen das wirklich abnehmen? Herr Gründer klopft an einem Klassenzimmer und tritt dann ein: "So guten Morgen. Ich möchte euch eure neuen Mitschüler vorstellen. Das sind Vincent und Dag." Dabei zeigt er jeweils auf sie. Dag mustert die Teenager im Raum. Ein paar Mädchen starren ihn auch an und tuscheln dann.

"Ich bin Frau Falk, Geschichtslehrerin. Setzt euch doch zu Alexander", stellt sich die Lehrerin vor und zeigt in die dritte Reihe. Dort sitzt genau der Junge, der ihnen den Weg zum Rektorat zeigte. Was ein Zufall. "Was ist denn mit dem? Nur Assis hier", schnappt Dag aus der zweiten Reihe auf, als er sich zwischen Alexander und Vincent auf dem Stuhl niederlässt. Eine Blondine und eine Brünette blicken ihn an und lachen. Sie nennen ihn einen Assi? Mädchen, wenn ihr wüsstet. Die Stunden bis zur Pause vergehen wie im Flug.

Es ist durchaus heutzutage leichter, dem Unterricht zu folgen. Sein Studium in den 50er Jahren war sehr trocken und auch hochgestochen. Auf dem Schulhof spricht sie Alexander an: "Euch habe ich doch den Weg zum Rektorat gezeigt oder? Cool, dass wir in einer Klasse sind. Endlich mal andere Leute." Sehr gut, dann kennen sie jetzt schon mal jemanden. "Ey Iro und Löckchen, wo seid ihr denn ausgebrochen? Obdachlosenheim oder sind eure Eltern alte Kommunenhippies und überfordert mit euch?", ist der sarkastische Tonfall eines dicklichen, blonden Jungen zu hören, der sie selbstgefällig angrinst.

Vincent atmet schwerfällig durch. Ja, er weiß schon. Er selbst denkt auch gerade, dass sie sich nicht von einem Kind beleidigen lassen müssen. "Halt dein Maul, Fabian und verpiss dich", antwortet Alexander. "Ich habe mit Iro und Löckchen gesprochen, Gellner", entgegnet der blonde Junge. Dag macht einen Schritt auf ihn zu, sieht diesem tief in die Augen und befiehlt mit fester Stimme: "Du lässt uns gefälligst in Ruhe, sonst wirst du das bereuen! Alexander erwähnte bereits, dass du einen Abgang machen sollst. Also lauf!" Das Grinsen auf dessen Gesicht verschwindet, er nickt wortlos, dreht sich um und verschwindet. Geht doch.

Der (Lady)KillerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt