Das Fenster

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"Hier Lynn, du kannst dir schonmal dein Zimmer aussuchen", sagt meine Mutter, während sie mir die Schlüssel zu unserem neuen Haus und somit auch zu meinem neuen Leben in die Hand drückt. Meine Eltern sind noch bei den Umzugsautos und ich öffne leicht aufgeregt die Haustür. Es riecht nach Putz und Wandfarbe und fast alles ist weiß und staubig. Ich laufe langsam durch den Eingangsbereich in einen offenen Raum. Links und rechts sind zwei Räume, die mein Zimmer werden könnten. Sie sind etwa gleich groß und sehen wie jedes normale Zimmer aus. Ich gehe weiter bis ich die Treppe nach oben entdecke. Nochmal zwei Zimmer. Eins ist laut meiner Kompass-App nach Osten ausgerichtet, das andere nach Westen. Von dort aus könnte ich Sonnenuntergänge beobachten. Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man die eine Hälfte unseres neuen Gartens und dahinter steht das nächste Haus. Es ist nicht sehr hoch, was bedeutet, dass es nicht viel Sonnenlicht verdrängen wird. Das Zimmer hat außerdem eine leichte Dachschräge, aber das stört mich nicht. Bis jetzt hatte ich fast immer Zimmer mit Dachschrägen.

Ich lasse meinen Rucksack, den ich die ganze Zeit auf der Schulter hatte, auf den Boden fallen und setze mich auf die relativ große Fensterbank. Ein paar Leute laufen die Straße entlang. Eine Person schließt gerade das Haus gegenüber auf und geht rein. Den Taschen nach zu beurteilen, war sie einkaufen. Sie hat Skinnyjeans an und ein hellgrünes, schickes T-Shirt. Ihre langen braunen Haare trägt sie in einem Pferdeschwanz. Irgendwie sieht sie nett aus.

Die nächsten Stunden bestehen aus Kartons reintragen, auspacken und die ersten Möbel aufbauen. In meinem Zimmer liegt mein Rucksack, eine Maratze und ein Nachttisch mit Lampe steht daneben. Mein Zimmer ist groß und so fühle ich mich noch einsamer als es dunkel wird und ich in dem fast leeren Raum auf der Matratze sitze.

Es sind Sommerferien und meine Eltern dachten, es sei der perfekte Zeitpunkt um umzuziehen. Sie haben die letzten Monate ein kleines, aber sehr erfolgreiches Unternehmen aufgebaut und sind nur noch damit beschäftigt. Jetzt gibt es eine Lagerhalle für das Unternehmen und diese ist über eine Stunde von unserer alten Heimat entfernt. Sie sind sehr ehrgeizig und ihnen ist fast alles wichtiger als unsere Familie. Keine Ahnung ob sich das nur so anfühlt oder wirklich so ist. Immer, wenn ich meinen Namen aus ihren Mündern höre, ist es, weil ich irgendwas helfen soll oder so. Sie fragen mich auch nicht bis wann ich weg bleibe oder wie es mir überhaupt geht. Vor dem neuen Unternehmen war es nicht viel besser. Sie haben beide bei unterschiedlichen Firmen gearbeitet und hatten immer wenig Zeit für mich. Naja, Geld ist wohl wichtiger als Familie.

Wenn ich jetzt wenigstens jemanden hätte, der neben mir sitzt. Dessen Hand ich jetzt halten könnte und der mir sagen würde, dass bald alles besser laufen wird. Gerade als ich meinen Rucksack ausräumen will, höre ich ein leises Kratzen an der Tür. Ich mache sie auf und meine Katze Nala kommt reingeschlichen. Ich hebe sie hoch und nehme sie mit auf meine Matratze, wo wir kuscheln und sie eine kleine Träne von mir in ihrem weichen, hellen Fell aufsaugt. Ein paar Minuten später ist sie eingeschlafen und ich setze mich nochmal auf die Fensterbank. Der Mond scheint, sonst ist alles dunkel.

Plötzlich geht ein Licht an. Direkt in dem Haus gegenüber. Der Vorhang des Fensters ist zu, aber ich kann trotzdem Umrisse einer Person erkennen. Ich glaube, es ist die Nachbarin, die ich vorhin schon gesehen habe. Das Licht in ihrem Zimmer ist warm und irgendwie bringt es auch etwas Wärme in diese kühle Einsamkeit. Vielleicht bringt auch sie etwas Wärme in diese kühle Einsamkeit. Wir zwei. Die einzigen, die jetzt gerade noch in der dunklen Nacht wach sind. Irgendwas an ihr zieht mich an. Dabei kenne ich sie doch überhaupt nicht. Ihre Silhouette verrät mir, dass sie sich gerade auszieht. Ich erkenne nicht viel, trotzdem fühlt es sich falsch an, hinzuschauen. Dennoch kann ich meine Augen nicht von diesem Fenster wenden. Ihre Bewegungen sind irgendwie weich und elegant. Dann entfernt sich ihr Körper von dem Fenster und ein wenig später geht das Licht wieder aus. Das ist wahrscheinlich mein Zeichen, auch schlafen zu gehen. Oder es zumindest zu versuchen...

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