Kapitel 4 - Gefunden und verloren, verloren und gefunden

10 2 0
                                    

Der Neue Hafen summte in seiner typischen Betriebsamkeit. Verkäufer priesen ihre Waren an, Fischer zogen Netze voller Fisch an Land und unzählige Schiffe fuhren stetig ein und aus. Weit würden sie sich jedoch nicht von der Küste entfernen, zu groß war die Angst vor Skylla und den sechs anderen Ungeheuern, für die das Meer zwischen Liria und Amarata berüchtigt war. Es kam nicht selten vor, dass Schiffe nie zurück kehrten und die mutigen Seemänner trauernde Frauen und Kinder zurückließen. Ob dies jedoch an den tödlichen Sirenen und Drachen lag, von deren Existenz Sorcha wusste oder den Jägern und Plünderern, die die Angst der Menschen gelernt hatten auszunutzen, würde sie wohl niemals wissen.
Sorcha zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht, während sie sich Lysander folgend zwischen den geschäftigen Menschen hindurch schlängelte. Auch wenn die Gebiete der Stadt Orna noch sehr viel sicherer für die Mitglieder der Orden war, als die Regionen von Fóvos, hieß das nicht, dass es nicht zu einem Aufschrei kommen würde, wenn man eine goldenen Wanderin unter sich entdeckte. Das würde die Art von Aufmerksamkeit auf sie ziehen, die Lysander ihr geraten hatte lieber zu vermeiden.
Für sein junges Alter war der Heiler, den Koa geschickt hatte, um sie zu finden, nicht gerade naiv. Er wusste, was es hieß sich an unbekannten Orten zu recht zu finden und unter den Menschen zu verschwinden. Eine Gabe, die ihm lange das Leben gerettet hatte, wie er ihr an einem der Lagerfeuer spät in der Nacht erzählt hatte.
Lysander war ein Sklave von Nótos gewesen, war von einer der gebrochenen Frauen geboren worden, die der König in den Kerkern des Schlosses von Wahatan gefangen hielt und die ihm gezwungener Maßen halfen seine Sklavenwirtschaft, trotz schwindender magischer Wesen, zu erhalten. Lysander hatte nicht einmal laufen können, als er zum ersten Mal dazu gezwungen worden war, einen Soldaten zu heilen, der bei einem Streifzug verletzt worden war.
Anders als bei den Mitgliedern des Ordens der goldenen Wanderer, stellte eine unkontrollierbare Gabe beim Orden der tausend Tode keine Gefahr für die Menschen dar. Alle Mitglieder trugen den Segen in sich nur Gutes tun zu können und konnten so auch schon im jungen Alter benutzt und ausgebeutet werden.
Es war grausam, schreiende Sklavenbabys auf Schlachtfeldern zu sehen, nur so weit versorgt wie es gerade zum Überleben nötig war. Sorcha hatte es vor vielen, vielen Jahren selbst miterlebt und seit dem gingen ihr die Bilder nicht mehr aus dem Kopf.
Im Krieg, der zum Fall der ersten Ordnung geführt hatte, hatte sie für die Freiheit dieser Babys gekämpft. Seite an Seite hatte sie mit Koa und seinem Bruder Eris die Soldaten getötet, die sich ihnen in den Weg stellten. Schlussendlich war es trotz allem vergebens gewesen. Lysander war der lebende Beweis dafür, wie sehr ihr Versagen, ihr Volk bis heute in den Untergang trieb.
Ein Matrose mit einer Kiste voller Fisch rempelte Sorcha grob an und riss sie aus ihren düsteren Gedanken. „Pass auf, wo du hinläufst!" ,rief der Mann ihr wütend nach, während er bereits zwischen den anderen Passanten verschwand. Als Sorcha sich nach Lysander umsah, bemerkte sie, dass der Junge stehen geblieben war und freudig lächelnd eine Frau mit wilden blonden Locken umarmte, die an einem der Stege stand.
Sie trug eine lederne dunkelrote Weste über einem weißen Hemd und einer schwarzen Hose, die ihre starken Kurven hervorhob. Auf ihrem Rücken war ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen befestigt worden. Einige der Matrosen und Fischer warfen ihr im Vorbeigehen laszive Blicke zu, doch das schien sie nicht im geringsten zu kümmern, während sie sich angeregt mit Lysander unterhielt.
Langsam trat Sorcha näher, beobachtete die Frau, die vermutlich zu Koas Crew gehörte, von der Lysander ihr erzählt hatte. Eine Crew voller magischer Verbannter, die selbst in Amarata keine Familie gefunden hatten.
Die Frau bemerkte Sorcha, bevor Lysander sich wieder an ihre Anwesenheit erinnerte und betrachtete sie abschätzig von oben bis unten, als wäre sie ein Ausstellungsstück, an dessen Existenz sie noch nicht ganz glaubte. Sorcha kannte diesen Blick nur zu gut und hatte ihn genauso gut gelernt zu verabscheuen.
Ihr Gesicht lag noch immer im Schatten, als sie neben Lysander trat. Dieser warf ihr ein breites Lächeln zu, bevor er auf die Frau zeigte und freudig verkündete: „Sorcha, darf ich dir Quinn vorstellen? Zweiter Offizier des Captain."
Die Frau schnaubte belustigt. „Diesen Titel gibt es ganz sicher nicht."
Lysander verschränkte lachend die Arme vor der Brust. „Dann gibt es den eben ab heute. Ich werde dem Captain sofort von dieser grandiosen Idee berichten" ,verkündete er und stiefelte den Steg hinunter, hinein in das Labyrinth der ankernden Schiffe.
Quinn blickte ihm lächelnd nach. „Kyon wird sich sicher freuen ihn wiederzusehen. Die letzten Wochen war es viel zu ruhig an Bord."
Da war er wieder. Dieser Name, den Koa zu benutzen schien und unter dem seine Crew einschließlich Lysander und Quinn ihn kannten. Sorcha hatte Lysander gefragt, warum Koa nicht seinen wahren Namen trug, doch der Junge hatte bloß mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass Sorcha ja auch diejenige sein könnte, die den Captain unter einem erfundenen Namen kannte. Damit war das Thema für den Heiler abgeschlossen gewesen.
Sie hatte Lysander nicht erzählt, dass sie an Koas Seite um Leben und Tod gekämpft hatte, mit ihm zusammen aufgewachsen und trainiert hatte. Sie hatte ihm auch nicht erzählt, dass Koa der Einzige gewesen war, der sich je getraut hatte, sie zu umarmen. Wenn der Mann, den sie so gut kannte wie niemanden sonst, seine Identität vor diesen Leuten verbarg, dann hatte er einen Grund dafür.
Quinn war hinter Lysander den Steg hinab geschlendert und sah Sorcha nun abwartend an. „Willst du ewig da stehen bleiben und den Fischgestank in dich aufsaugen" ,fragte sie mit hochgezogenen Brauen, „Kleiner Tipp: Das könnte einen eher schlechten ersten Eindruck machen."
Ein Lächeln stahl sich auf Sorchas Lippen, während sie kopfschüttelnd der Frau folgte. Als sie zu Quinn aufgeschlossen hatte, streckte sie ihr lächelnd eine Hand entgegen.
„Sorcha Laurel. Freut mich auch deine Bekanntschaft zu machen."
Quinn grinste als sie ihre ausgestreckte Hand sah.
„Ich bin vielleicht blond, meine Liebe, aber ganz sicher nicht so dumm einer goldenen Wanderin die Hand zu geben" ,sagte sie mit gedämpfter Stimme, bevor sie weiter lief. Sorcha folgte ihr mit langen Schritten.
Als sie das große Schiff mit den majestätischen, weißen Segeln fast erreicht hatten, auf dem Lysander gerade verschwand, murmelte Sorcha so leise, dass nur Quinn es hören konnte: „Ich werde schon noch herausfinden, wer du bist."
Die Frau lächelte und ihre meerblauen Augen leuchteten herausfordernd.
„Dessen bin ich mir sicher" ,antwortete sie zwinkernd, bevor sie Sorcha bedeutete das Schiff zu betreten und anfing die Seile, die dieses am Hafen hielten, vom Steg zu lösen.

magia est nobisWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu