Kapitel 5 - In eigener Mission

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Noch immer lag ein zufriedenes Grinsen auf Shays Lippen. Es war ihr nicht klar gewesen, wie sehr sie sich nach diesem Moment gesehnt hatte, wie sehr ihre Seele nach Rache an dem alten König gegiert hatte. All die zerstörten Leben endlich zurück gezahlt durch die silberne Klinge der nuntii dei, der größten Feinde der magischen Welt. Hinsichtlich dieser Ironie des Schicksals hätte Shay beinah laut gelacht.
Neugierig beobachtete sie den Gottesboten, der gelassen das silberne Schwert aus dem nun leblosen Körper des Königs zog und es an seiner Uniform abwischte. Rotes Blut tropfte lautlos auf die perfekt polierten Fliesen. Die Schreie im Palast und das laute Leuten der Alarmglocken waren in den Hintergrund getreten.
Shays Grinsen verblasste auch nicht, als der tödliche Mann sich langsam zu ihr umdrehte, seine Miene unlesbar.
„Verschwinde von hier!" ,befahl er plötzlich mit seiner dunklen Stimme.
Noch immer war seine Miene ausdruckslos, doch etwas schien in seinen Augen aufzuleuchten, als er Shays glückliches Grinsen bemerkte. War es Verstehen, Neugier, Mitgefühl? Sie konnte es nicht sagen.
Sie war bereit zu sterben, hier und jetzt durch sein silbernes Schwert. Geboren um zu richten ,stand in filigranen Buchstaben auf der Klinge. Zu richten die magischen Wesen, nicht uralte menschliche Könige, die eh nicht mehr lange zu leben hatten. Shays Grinsen verwandelte sich in einen Ausdruck der Verwirrung, als sie verstand, dass dieser Gottesbote den König aus purer Rache umgebracht hatte und gerade sie, ein magisches Wesen, zur Flucht aufforderte.
„Warum tötest du mich nicht?" ,fragte Shay verwirrt.
Sie hätte niemals gedacht, dass sie je wieder eine Chance auf ein freies Leben bekommen würde, eine Chance, die nun vor ihr in der Luft zu schweben schien, greifbarer denn je. Sie war nicht in der Lage diese Chance an sich zu reißen.
Wenn man einmal aufgegeben hatte, konnte man die Hoffnung nicht mehr sehen.
„Verschwinde von hier oder sie werden dich töten" ,verlangte der Gottesbote erneut, diesmal mit weniger Nachdruck in der Stimme.
„Ich habe keine Angst vor dem Tod" ,sagte Shay mehr zu sich selbst als zu dem Mann vor ihr.
Eine Spur Neugier blitze in seinen Augen auf, als er genervt aufstöhnte. „Wie dramatisch."
Er schien jedoch aufgegeben zu haben sie zur Flucht zu bewegen und stellte stattdessen fest: „137 Jahre ist eine lange Zeit für einen Menschen. Ich vermute mal du hast ihm dieses stattliche Alter ermöglicht."
Shay nickte langsam. Sie fühlte sich als hätte jemand eine Glaskugel über sie, den toten König und den Gottesboten gestülpt. Alles wirkte gedämpft, verlangsamt.
Leise sagte sie: „50 Jahre habe ich sein Leben verlängert. 73 Jahre lebe ich als seine Sklavin."
Der Gottesbote hob überrascht die Brauen. Anerkennung lag in seinem Blick, als er antwortete: „Nicht jedes Mitglied des Ordens der tausend Tode kann so etwas vollbringen. Hast du in Mortes gelernt?"
Shay schüttelte den Kopf. So weit sie wusste lag Mortes seit dem Fall der alten Ordnung in Trümmern. Nur ein Amarataner könnte von einem Wiederaufbau der magischen Stätten wissen.
Plötzlich wieder klar im Kopf, musterte sie den Gottesboten misstrauisch. „Du willst mich nicht töten. Du tötest den König von Nótos aus purer Rache. Du weißt mehr über die magische Ordnung, als es je ein nuntii dei für nötig halten würde. Und doch führst du ein Schwert aus purem Silber. Sag mir, wer bist du wirklich?"
Ein amüsiertes Grinsen erschien auf dem Gesicht des Mannes. „Wer hat gesagt, dass ich dich nicht töten will?" ,fragte er leise, jedoch eher amüsiert als drohend.
Im selben Moment fiel das Gesicht des riesigen Mannes, der vor ihr stand, wie eine Maske von ihm ab. Zurück blieb ein sehr viel kleinerer schlanker junger Mann mit rötlichem kurzen Haar und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Die Kleidung des Leibgardisten hing nun wie ein Sack an seinem dürren Körper.
„Beantwortet das deine Frage..." Abwartend sah er sie an.
„Shay" ,murmelte sie perplex, ganz und gar nicht bereit alles zu verarbeiten, was gerade passiert war.
„Nun Shay. Es ist mir eine Freude deine Bekanntschaft zu machen. Wie du siehst bin ich ein Gottesbote, doch meine Freunde und ich teilen, sagen wir mal, ein unterschiedliches Weltbild."
Shay drängte die Überraschung und Verwirrung zurück und zwang Klarheit in ihre Gedanken. Dann sah sie den Mann vom Orden der Gesichtslosen mit hochgezogenen Brauen an.
„Du bist also ein Spion" ,stellte sie fest.
Der Gottesbote lachte leise. „Sagen wir lieber ein Mann in eigener Mission."
Shay schnaubte belustigt, doch sie widersprach ihm nicht.
Gelassen fuhr der Mann nun fort: „Da ich unbedingt diese absolut ungemütlichen Kleider loswerden muss, hast du jetzt zwei Möglichkeiten." Um seinen Punkt zu unterstreichen, zupfte er abwertend an einem der viel zu langen Ärmel. „Entweder ich lasse dich jetzt hier zurück und du bleibst eine Sklavin für den Rest deines Lebens. Aber auch nur, wenn du Glück hast und sie dich nicht für den Tod unseres geliebten Königs hier hinter mir verantwortlich machen. Oder du spazierst mit mir aus diesem Palast heraus und wirst zu einer Frau in eigener Mission."
Er lächelte sie an und breitete seine Arme einladend aus, das silberne Schwert noch immer in der Hand. „Deine Entscheidung, Shay" ,sagte er mit hochgezogenen Brauen.
„Und wie willst du bitte deine Freunde davon überzeugen, dass ich einer von euch bin?" ,fragte sie skeptisch, während sie tatsächlich in Erwägung zog das Angebot des Mannes anzunehmen.
Dieser zuckte mit den Schultern. „Das finden wir auf dem Weg raus. Ich bin da eher von der spontanen Sorte" ,erklärte er gleichgültig, „und jetzt mal im Ernst, was hast du schon noch zu verlieren, Shay?"
Er hatte Recht. Was hatte sie noch zu verlieren? Nichts. Man hatte ihr alles genommen. Ihr Leben, ihre Angst, ihren Glauben, ihre Menschlichkeit.
„Ich bin dabei" ,sagte sie ernst.
Der Gottesbote klatschte freudig in die Hände. „Wunderbar!"
Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Shay musste rennen, um zu ihm aufzuholen. Den König und ihr altes Leben ließ sie in dem prunkvollen Raum zurück. Sie sah nicht noch einmal über ihre Schulter, als sie dem Gottesboten mit rasselnden Ketten folgte.

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⏰ Last updated: Dec 02, 2023 ⏰

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