1. EMPTY

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,,Steh gerade, Primrose. Mädchen haben nicht so eine krumme Haltung. Hebe das Kinn und halte den Rücken gerade."
Die Stimme meiner Mutter klang weich und samtig in meinem Ohr, während sie mir durch meine langen hellblonden Haare strich und das weiße Rüschenoberteil zurecht zupfte, welches ich trug.
Ich sah in die matten und müden blaugrauen Augen meines Spiegelbildes.
Meine Beine schmerzten in dieser engen Jeanshose.
Ich fühlte mich, wie ein zugeschnürtes Paket.
Meine Mutter lächelte.
Ihre zerzausten braunen Haare klebten ein wenig an dem dunkelroten, verschmierten Lippenstift, den sie trug, während sie eine kleine Tasche mit Make-Up nahm und eine Tube Concealer herausnahm.
Sie drehte die Tube auf und pinselte etwas von der kalten dickflüssigen Paste auf den blauen Bluterguss um mein Auge herum.
Dann nahm sie einen kleinen Schwamm und verblendete es.
,,Du wirst heute so schön aussehen, Liebling." sagte sie und lächelte.
Ihre tiefen Augenringe verrieten mir, dass sie wahrscheinlich wieder die ganze Nacht wach gewesen war.
Ich hatte sie oft genug gesehen, wie sie mitten in der Nacht, im Dunkeln, auf der zerrupften Couch im Wohnzimmer saß und gegen die fleckige Wand starrte.
Sie saß nur da, gekleidet in ihrem lumpingen grauen Nachtkleid und starrte.
Wenn ich sie ansprach, brach sie aus und schrie mich an.
Manchmal gab es sogar einen Schlag von ihr.
Seitdem mein Vater gestorben war, zerfiel sie mental immer mehr.
Das ging seit Jahren so.
Ich kniff ein wenig mein Auge zusammen, während sie mir mit dem Schwamm gegen die blaue Stelle tippte.
Ein Fehler.
,,Lass die Augen offen! Wage es ja nicht sie zu schließen! Du kannst dem hier nicht entfliehen!" zischte sie sofort.
Ich zuckte kurz zusammen, dann nickte ich.
,,Tut mir leid." erwiderte ich und öffnete das Auge wieder.
Meine Mutter hielt mein Kinn mit ihren dürren Fingern fest.
,,So ist es gut. Höre auf deine Mutter. Spare dir deine elendigen Fantasien. Du gehörst mir. Mir allein. Niemand kann dich haben, außer mir. Meine Primrose." murmelte sie kaum verständlich während sie weiter tupfte und dann den Schwamm gegen Wimperntusche eintauschte.
Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken, wie so häufig, wenn sie so mit mir sprach.
Als wäre sie allein.
Als wäre ich ihre Beute.
,,Meine schöne Tochter. So schön. So rein. Du bist nicht wie die anderen Töchter. Du bist gut und schlau und schön, so schön." sagte sie in einem weichen Ton, während sie meine Wimpern tuschte.
,,Wenn nur nicht dieses elende Zucken wären! Krieg das in den Griff, Primrose! Sonst setzt es was!" ergänzte sie laut und wütend.
,,J-Ja, Mutter." erwiderte ich schnell.
So schnell wie sich die Laune meiner Mutter änderte, so schnell konnte ich gar nicht gucken.
So wie auch jetzt.
Sie lächelte warm.
,,Gut. Du bist fertig. Vergiss deine Jacke nicht, die mit dem schönen Lavendelton. Und deine Brotdose." sagte sie und packte das Make-Up zusammen.
Ich sah im Spiegel zu, wie sie den Raum verließ, langsam und schlurfend.
Dann sah ich wieder auf mein Spiegelbild.
Der blaue Fleck in meinem Gesicht war mit Schminke überdeckt worden.
Wimperntusche klebte an meinen Wimpern und Lipgloss an meinen Lippen.
Meine hellblonden Haare waren lang und offen, fielen über meine Schultern.
Ich sah älter aus, als ich es sollte.
Nicht mehr wie eine 12-Jährige.
Es war gruselig, wie meine Mutter mich täglich einkleidete und bemalte, wie eine Puppe.
Eine menschliche Puppe aus Fleisch und Blut mit Haut und Haaren.
Aber ohne einen einzelnen Ausdruck im Gesicht.
Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch.
In mir tobte ein Sturm, der ausbrechen wollte.
Ich war nicht das Mädchen, was meine Mutter so sehr aus mir herausholen wollte, indem sie mich mädchenhaft kleidete und schminkte.
Tief im Inneren wusste ich es schon immer, dass ich kein Mädchen war.
Ich war ein Junge.
Ein Junge, gefangen in einem weiblichen Körper.
Gefangen in den Händen einer Mutter, die mich nicht als das sah, was ich wirklich war.
Und langsam aber sicher, brach meine Maske, die ich seit all den Jahren immer hielt.
Der Sturm würde schon bald ausbrechen.

EMPTY // VILLAIN Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum