Kapitel 4

529 26 0
                                    

Maja

Der nächste Tag war ein Samstag. Natürlich half ich meinem Vater auch am Samstag und Sonntag auf dem Hof, die Tiere kannten schließlich kein Wochenende, doch er hatte vor einiger Zeit durchgesetzt, dass er an diesen Tagen den Großteil der Arbeit übernahm. Meist nutzte ich den Vormittag des Samstages, um einen größeren Wocheneinkauf zu erledigen. Der Rest des Tages gehörte dann mir allein, beziehungsweise meinen Freunden.

Der Wochenmarkt war an diesem Samstag gut gefüllt. Wolken waren weit und breit nicht zu entdecken, es versprach ein schön sonniger Tag zu werden. Als ich alle Punkte auf meiner Einkaufsliste abgearbeitet hatte und mich wieder auf den Heimweg machen wollte, hörte ich plötzlich meinen Namen. Anstatt weiter zu meinem Auto zu gehen, drehte ich mich um und suchte nach der Person, die mich gerufen hatte. Das Blut gefror mir in den Adern, als ich Theos Mutter auf mich zukommen sah. Unter dem Arm hielt sie einen prall gefüllten Einkaufskorb. Wollte sie fragen, ob sie bei mir mitfahren konnte? Ich lächelte sie zögerlich an und hätte sie auch gerne gegrüßt, wusste nur nicht so recht wie. Als Kind war ich bei ihr Zuhause ein und aus gegangen und hatte sie immer bei ihrem Vornamen genannt. Doch in den letzten Jahren waren wir uns nur zufällig begegnet und hatten nie lange miteinander geredet. Im Prinzip war sie für mich inzwischen eine Fremde, weshalb es sich seltsam angefühlt hätte, sie mit ihrem Vornamen zu grüßen. Zum Nachnamen zu wechseln erschien mir aber auch albern. Also entschied ich mich für ein simples „Guten Morgen".

„Hallo Maja", begrüßte sie mich mit einem Lächeln, das mit Sicherheit deutlich herzlicher ausfiel als mein eigenes. „Wie schön, dass ich dich hier treffe."

Verdutzt hob ich die Augenbrauen. Mir fiel kein Grund ein, weshalb sie sich freuen sollte, mich zu sehen. Es sei denn, sie benötigte wirklich eine Mitfahrgelegenheit, was ich mir nicht so ganz vorstellen konnte. Sonst war sie immer mit ihrem eigenen Auto hier. Sie schien mir die Verwunderung anzusehen, denn sie sprach sofort weiter: „Hast du Lust, heute Abend zu uns zum Essen zu kommen? Du warst schon so lange nicht mehr da und Theo freut sich bestimmt."

Ersteres konnte ich zweifelsfrei bestätigen. Zweiteres konnte ich zweifelsfrei ausschließen.

„D-Danke für die Einladung", stammelte ich überrumpelt, „aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich glaube nicht, dass Theo sich freuen würde und ich möchte nicht-"

„Nimm sein Verhalten nicht persönlich", unterbrach sie mich und winkte ab. „Die Situation ist nicht leicht für ihn. Er lässt seine Wut auch an uns allen aus, das hat nichts mit dir zutun."

Meine Verwirrung nahm stetig zu. Wusste sie von meiner Begegnung mit Theo, hatte er ihr etwa davon erzählt? Und was genau hatte er ihr berichtet, um sie darauf schließen zu lassen, dass es eine gute Idee wäre, mich zum Abendessen einzuladen?

„Ihr kennt euch schon so lange", fuhr sie unbeirrt fort, „und es würde ihm bestimmt gut tun, viele vertraute Gesichter um sich zu haben."

Meiner Einschätzung nach würde es ihm gut tun, wenn er bald wieder Eishockey spielen konnte. Meine Präsenz in seinem Leben war da eher weniger gefragt. Aber falls er seiner Mutter gegenüber wirklich geäußert hatte, dass er sich über meinen Besuch freuen würde, konnte ich ihn nicht hängen lassen.

„Okay", stimmte ich nach reichlich Überlegung zu. „Wann soll ich da sein?"

Theo

Es war nicht fair.

Es war einfach nicht fair.

Wen störte ich denn, wenn ich einfach nur still in meinem Bett lag und an die Decke starrte? Niemanden. Man konnte mir nicht einmal vorwerfen, den ganzen Tag nur hinter einem Handy- oder Computerbildschirm zu hängen. Aber anstatt mich in Ruhe zu lassen, zwangen mich meine Eltern förmlich, mich zum gemeinsamen Abendessen ins Esszimmer zu begeben. Mein Vater verkündete, er würde mein Zimmer nicht ohne mich verlassen und als ich ihm erklärte, dass mir seine Anwesenheit herzlich egal war, widmete er sich extrem geräuschvollen Spielen auf seinem Handy. Kaum zu glauben, wie kindisch erwachsene Menschen sein konnten. Eine Viertelstunde hielt ich die Geräuschkulisse aus, dann schwang ich meine Beine aus dem Bett und ging kommentarlos an meinem Vater vorbei aus dem Zimmer. Augenblicklich verstummten die Geräusche. Wenn ich mich seinem kindischen Verhalten anschließen wollte, musste ich jetzt zurück in mein Zimmer gehen und ihn nach Möglichkeit aussperren. Aber dazu fehlte mir jeglicher Antrieb. Genervt ohne Ende ging ich ins Esszimmer. Dass meine Eltern das einstige Arbeitszimmer vor meiner Rückkehr in mein neues Schlafzimmer verwandelt hatten, war mit Sicherheit nett gemeint gewesen - so wie alles, was sie taten, blablabla - aber in der Realität erinnerte es mich jeden Tag daran, dass ich zu verletzt war, um regelmäßig ohne Probleme eine simple Treppe zu benutzen.

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt