2 | Mehr lebendig als tot

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Ich sah zu, wie die junge Seele im gleißenden Licht verschwand. Sie war nur kurz hier gewesen. Ein junges Mädchen, nicht ganze zwölf, mit den traurigsten Augen, die ich in diesen vielen Jahren gesehen habe. Ich glaubte, dass sie auf eine Weise dankbar war, tot zu sein. So viele Seelen es auch gab, die am liebsten zurück ins Leben wollten, gab es auch diese, für die der Tod eine Erlösung war.

Als die Strahlen Felicia - so hieß die Seele - vollständig verschluckt hatten, starrte ich noch eine Weile in das Licht. So, als müsste ich noch verarbeiten, was gerade geschehen war. Meine Gefühle waren gemischt - irgendwo zwischen traurig und erleichtert. Aber ich hatte mir selbst Versprochen, nicht zu sehr über die Seelen nachzudenken.
Manchmal, meistens, wenn Selene mit ihrem Mondwagen über den Himmel fuhr, erwischte ich mich dabei, über Verstorbene nachzudenken. Ab und zu weinte ich dann auch. Leise Tränen, von denen niemand wusste ausser dem Mond und mir. Ein Geheimnis, über welches nicht gesprochen wurde.

Enya und Lian hatten nicht viel von dem Besuch mitbekommen. Ein bekümmerter Blick in die Richtung des blassen Mädchens, mehr nicht. Sie hielten sich oft aus diesen Dingen raus. Sie übernahmen bereits die Getränke. Ich war diejenige, an die sich die Seelen wandten und ihr Herz ausschütteten, bis sie nichts mehr zu sagen hatten und bereit waren, durch den Durchgang zu treten. Ein Durchgang, hell wie die Sonne, mit Blüten verziert. Wahrscheinlich genau das Gegenteil von dem, wie sich Menschen das Tor zum Tod vorstellten.

Ein leises Klingeln veranlasste mich dazu, mich der Eingangstür zum Elysia zu wenden. Ich erwartete wieder eine Seele mit einer traurigen Hintergrundgeschichte, weitere Stunden vollen Redens. Doch die Person, die eintrat, entsprach gar nicht den Vorstellungen, die ich hatte. Ich blinzelte ungläubig. Sogar Enya und Lian musterten sie eine Weile.

Die Seele, die gerade das Dazwischen betreten hatte, sah nicht nur engelsgleich aus, sondern hatte auch diese gewisse Ausstrahlung. Eine Aura, die beinahe sichtbar war. Sie strahlte geradezu mit der Sonne um die Wette. Sie sah aus, als würde sie den Tod herausfordern - denn diese Seele, die nun mit federnden Schritten auf mich zulief, sah mehr lebendig als tot aus. Ein Mond zwischen einem Haufen Sterne.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?« Unser Gast lächelte süffisant. Obwohl Lian und Enya genauso sehr starrten wie ich, fixierte sie nur mich. Mit einer Hand spielte sie mit ihren schwarzen Locken, die so gepflegt aussahen, als hätte sie sich extra für heute bereitgemacht. Ich fragte mich, ob sie wusste, dass sie tot war. Oder ob sie glaubte zu träumen. Schließlich war das schon einmal der Fall gewesen.

Ich ignorierte ihre Frage und lächelte mein bestes Lächeln. »Setz dich doch.« Mit einer einladenden Geste deutete ich auf einen gemütlichen Platz in der Ecke neben dem Fenster. Draußen erstreckte sich blauer Himmel über einem Wolkenmeer.

»Liebend gerne.«

»Also«, begann ich. Ich hatte bereits meine einfühlsame Zuhörerinnen-Miene aufgesetzt, und musste zugeben, dass mich diese Geschichte besonders interessierte. Wie kam es, dass jemand so euphorisches im Dazwischen war? Ich beugte mich leicht vor und blickte der Seele in ihre Augen. Braun, wie flüssiges Karamell.

»Was darf es sein?« Bevor ich weitersprechen konnte, kam Enya an unseren Tisch gehetzt und wandte sich an den Gast. In den Händen hielt sie Schreibblock und Stift, als wartete sie auf eine komplizierte Bestellung.

»Ich lass mich überraschen.« Die Seele warf die Hände in die Luft und grinste breit. Mir fiel auf, dass ihre Lippen die Farbe von reifen Kirschen und Rotwein hatten. Ein Kontrast zu ihrer olivfarbenen Haut.

Enya rauschte wild nickend davon. Im Hintergrund nahm ich wahr, wie sie aufgeregt mit Lian diskutierte. Ich wandte mich wieder meinem Gast zu. »Ich schätze, du weißt, weshalb du hier bist.«

The Café between the starsWhere stories live. Discover now