11 | Gedankenmeer

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Ich schwamm in einem Meer aus Gedanken und Gefühlen. Über mir blauer Himmel und unter mir weiße Wolken. Mittendrin ich, versunken in einer anderen Welt. Das letzte Mal, als ich so weit weg war, war lange her. Ich erinnerte mich, wie Lian und Enya mich mühsam aus diesem Sog herausgezogen hatten. Ich wollte nicht wieder hinein. Aber hier bin ich, ohne jegliches Zeitgefühl. Meine Gliedmaßen waren schwer, als wären sie mit den Wolken verwachsen. Ich konnte mich nicht bewegen. Es war so, als wäre mein Körper eingeschlafen. Nur mein Geist war wach.

Ich versuchte mich zu erinnern, wie lange ich bereits hier im Elysia war. Doch alles vermischte sich. Wochen, die gleich verliefen, verschwammen zu einem Tag, besondere Momente stachen dazwischen hervor. Im Elysia gab es keine Uhr. Keinen Kalender. War das Absicht so? Sollte ich gar nicht in Versuchung kommen, darüber nachzudenken?

Wie war ich überhaupt darauf gekommen? Früher war mir sowas nicht wichtig gewesen. Es war, als wäre mir alles nicht genug. Aber ich war dazu bestimmt, hier zu verweilen. Ich liebte diesen Ort. Ich liebte den Sonnenaufgang. Die Wolken, den Himmel, das Elysia. Alles so schön hier.

Die Strömungen zogen mich in eine andere Richtung. Ich wehrte mich nicht. Iduna tauchte vor mir auf. Nicht in echt, nicht hier, aber in meinem Gedankenmeer. Sie lächelte mich an und fuhr sich durch die dunklen Haare. »Ich mag es, hier zu sein«, raunte sie mir zu. Sie hatte oft davon geschwärmt, wie schön es hier doch war. Aber sie wollte nicht weiter. »Merkst du nicht, wie ich anders bin?«

Was... wenn sie meine Erlösung war? Der Gedanke war absurd, aber nicht unmöglich. Wäre es möglich, dass meine Aufgabe erledigt war? Dass sie die nächste in der Reihe war? Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie sich zu den Seelen an den Tisch setzte, sich mit ihnen unterhielt. Ich hörte ihr Lachen auf meiner Haut kitzeln und erschauderte. Ich sah mich selbst ins Licht treten, ich statt Iduna. Sie würde dafür an meiner Stelle im Café arbeiten.

»Wie schön das doch wäre«, säuselte der Wind, »aber naiv.« Er ließ die Oberfläche des Gedankenmeeres kräuseln. »Hast du an Enya und Lian gedacht? Sie würden dich vermissen.«

Ich wusste, wie Recht er doch hatte. Ich konnte nicht einfach ins Licht treten. Was wollte ich dort auch machen? Meine Familie besuchen, an die ich mich nicht im Geringsten erinnerte? Eine Welle bäumte sich auf, in der Form von Unsicherheit. War ich überhaupt etwas Wert, wenn mich niemand kannte? Bilder tauchten vor meinem Auge auf. Seelen, die in Erinnerungen schwelgten. Ich, die am Rande stand und verzweifelt an Enya und Lian dachte, während ich anfing zu verblassen.

Die Welle brach über mir ein. Wasser überschüttete mich, drang in meine Lungen. »Nur eine Illusion«, flüsterte eine Stimme, die Idunas schrecklich ähnlich sah. »Atme.« Aber ich atmete nicht, sondern ließ das Wasser in mich eindringen. Es war schwerer als Regenwolken. Was hatte ich nur gedacht? Ich war dazu bestimmt, im Dazwischen zu sein. Ich liebte es. Das war alles, was ich hatte. Die Gespräche mit den Seelen. Lian, Enya. Aber auf einmal war es mir nicht genug. Warum? Warum war es mir plötzlich nicht genug?

Sonnenstrahlen erhellten das Wasser über mir. Ich streckte meine Hände aus, als würde ich mich daran hochziehen wollen. Ich kannte dieses grelle Licht. Der Übergang zum Tod. Ich war nicht weit davon entfernt. Doch das Wasser in mir zog mich hinab. Was für ein Wunder, dass ich noch nicht in den Tiefen dieses Meeres ertrunken war.

Plötzlich war mir kalt. Ich fühlte mich allein in diesem dunklen Blau, verlassen und missverstanden. Das Gegenteil von dem Gefühl, welches ich bei den Deseonen verspürt hatte. Ich wartete auf Arme, die nach mir griffen, die mich aus dem Wasser holten. Aber ich war allein. Allein gefangen in meinen eigenen Gedanken.

Leise Stimmen riefen nach mir. Ich nahm sie kaum war, nur am Rande meines Bewusstseins. Ich sank tiefer, spürte den Druck auf meiner Brust. Mein Herzschlag verlangsamte sich. Meine Augen schlossen sich, und Wellen in Form von Gedanken rauschten über mir. War es möglich, im Dazwischen zu sterben, ohne das Licht zu betreten? Bestimmt nicht. Oder doch?

»Ich will doch nur, dass es allen gut geht«, wollte ich sagen, doch es kamen bloß Luftbläschen aus meinem Mund. Und wenn es Gottheiten gab, die über uns wachten, erhörten sie meine Wünsche nicht.

The Café between the starsWhere stories live. Discover now