[1] Zwischen Blitz und Donner

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Lautes Donnergrollen rollte über den Himmel. Die schwarzen Wolkenberge türmten sich zu einem gewaltigen Felsmassiv auf und schluckten jeden verzweifelten Lichtstrahl, der den Versuch wagte, zur Erde durchzudringen. 

„Scheiße", fluchte ich leise und blickte der nahenden Wetterfront düster entgegen. Das Unwetter war so plötzlich und unangekündigt aufgezogen, dass ich hier ohne Regenschirm und auf freiem Feld denkbar ungünstig stand. Ich zog meine Jacke enger um mich. 

Die Welt wollte mir keinen Funken Freude gönnen. Selbst das Glas Whisky vorhin in der Bar um die Ecke war deutlich unter dem Durchschnitt gewesen. Gut. Die zwei Gläser. Vielleicht waren es auch vier gewesen. Da hatte das Himbeertörtchen aus dem Honigglück auch nicht mehr viel dazu beigetragen, meine Laune zu heben. Mal ganz abgesehen davon, dass es fad und ungewohnt ungenießbar gewesen war. Der eklig künstliche Geschmack klebte mir immer noch auf der Zunge. Missmutig stapfte ich durchs Gras.

Meine Laune lag am Boden. Übertrampelt von unzähligen Füßen. Wie immer.
Und diesmal hatte der Himmel sich offenbar von meiner schlechten Laune anstecken lassen, denn kaum hatte ich wieder den Feldweg erreicht, der mich zurück zur Stadt führen würde, setzte ein schwacher Nieselregen ein. 

Genervt hielt ich inne. Warf einen prüfenden Blick in die Ferne, um abzuschätzen, wie weit die Gewitterfront noch von mir entfernt war, wie viel Zeit mir noch blieb, wenn ich nicht klatschnass in der Stadt ankommen wollte. Und runzelte die Stirn. War die Wetterfront näher gerückt? 

„Ich hätte schwören können, dass die Wolken vor zwei Minuten noch deutlich weiter weg waren ...", murmelte ich zu mir selbst. Dann zuckte ich mit den Schultern, sicher bildete ich mir das wieder ein. Vielleicht war doch etwas dran an den Halluzinationen, die mir meine Therapeutin so dringend einreden wollte. Beim Gedanken an Frau Shanee verdrehte ich beinahe schon automatisch die Augen. Die mit ihrem aufklärerischen Geschwafel von wegen Alkohol sei nicht der richtige Weg, Dinge zu verarbeiten. Die konnte mich mal kreuzweise. 

Doch egal was sie mir einzureden versuchte, zumindest meine Gefühle bildete ich mir nicht ein. Und die begannen sich langsam in meiner Magengegend zu regen und miteinander zu tuscheln. 

Dieses Gewitter sah aus, als wäre es von einer ganz anderen Kategorie als alle, die ich in meinem Leben je erlebt hatte. Die Pechwolken waren noch dunkler als meine Gedanken, was schon eine beachtliche Leistung war. Mit jeder weiteren Sekunde verschluckten sie mehr Tageslicht, sodass ich in völliger Finsternis dastehen würde, wenn das so weiter ging.

Vielleicht sollte ich mich mal auf den Weg machen.

Vielleicht ... aber auch nicht. Was für einen Unterschied würde es machen? Ich, alleine und depressiv auf meiner Couch sitzend oder ich, alleine und depressiv mitten in einem Gewittersturm. Naja. In meiner Wohnung würde ich wenigstens im Warmen sitzen und Archie könnte mir Gesellschaft leisten. Wobei ich mir bei Archie nicht einmal sicher war, ob er überhaupt noch lebte. Der Kater hätte sich von seinem Kratzbaum in den Tod stürzen können, ohne dass ich es mitbekommen hätte. Manchmal wunderte ich mich, ob Tiere wie er überhaupt noch überlebensfähig wären, wenn ihre Besitzer plötzlich verschwinden würden. 

An schlechten Tagen demolierte Archie meine Teetassensammlung. An Guten waren es nur die hässlichen Vasen meiner Mutter, die in Scherben endeten. Wie dem auch sei, das kleine Biest musste direkt aus der Hölle stammen bei der Zerstörungswut, mit der sein alter gebrechlicher Körper gesegnet war. 

Wie aufs Stichwort zuckten helle Blitze wie pulsierende Adern durch die dunklen Wolken. Jetzt wurde das Unwetter erst richtig lebendig. 

Der Himmel darunter hatte eine rötlich-violette Färbung angenommen und es sah aus, als würde gerade die Welt untergehen. Unwillkürlich musste ich grinsen. Wenn ich schon vom Blitz getroffen werden sollte, dann wäre dieses Setting meinem Aufmarsch in die Hölle mehr als würdig. Vielleicht würde ich auf dem Weg dorthin Archie begegnen. 

Doch der immer stärker werdende Regen spülte mein Amüsement in kleinen Schlammbächen den Hang hinunter. Meine Haare klebten mir inzwischen am Kopf und das Wasser lief eiskalt über mein Gesicht. 

Als plötzlich ein ohrenbetäubendes Krachen über mir ertönte, zuckte ich aufgeschreckt zusammen. Das Gewitter musste genau über mir sein. Der schlagartig folgende Blitz zerriss die Dunkelheit um mich herum und schlug Sprünge in den Himmel, als wäre er aus Glas. Instinktiv wollte ich rennen. So weit weg von hier wie möglich. 

Es kostete mich einiges an Überwindungskraft, dem Drang zu widerstehen. Lustig, wie selbstverständlich mein Körper davon ausging, dass ich noch Überlebenswillen besaß.

Ich könnte mich einfach von den nahenden Wolken verschlucken lassen, die sich zu einer gewaltsamen Sturmbestie aufgetürmt hatten und jetzt den Himmel verschlangen. Es würde mir so vieles einfacher machen. Niemand würde mich vermissen. Meine Probleme würden sich alle in Rauch auflösen. Ich würde mich in Rauch auflösen. Ich müsste nicht mehr wegrennen vor meinen Gedanken, ich würde sie automatisch mit mir selbst ins Nichts reißen. 

Die Vorstellung, dass diese Möglichkeit plötzlich zum Greifen nahe war, kreiste so schwindelerregend schnell in meinem Kopf, dass es meinen Verstand fast aus der Verankerung riss. Ich stand wie benebelt mitten auf dem Feld und dachte, ich hätte einen Entschluss gefasst: Mein Ende. Ich würde ihm mit Würde entgegenstehen und es mit offenen Armen empfangen. 

Doch mein Körper betrog mich. 

Als erneut Donnergrollen den Himmel erschütterte, riss er mich in die Hocke, sodass ich so klein wie möglich auf dem inzwischen vollkommen durchweichten Boden kauerte, um dem Blitz so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. 

Merkbar wurde der Regen stärker, die Tropfen prasselten auf meinen Rücken wie kleine Kieselsteine, als würden sie mich verspotten. Verdenken konnte ich es ihnen nicht.

Die Grashalme um mich herum wurden von starken Windböen niedergedrückt und in unnatürliche Winkel gerissen, es war mit anzusehen wie ein perfides Marionettenspiel. Als würde der Wind die Grenzen immer weiter ausreizen, an denen die Grashalme zerbersten würden. Auf einmal war da Licht. 

Ich sah, wie ein verästelter Blitz einige Meter von mir entfernt mit einem ohrenbetäubenden Knall in den Boden einschlug. Ich sah, wie an der Stelle kleine Flämmchen entstanden, ich sah die Gier, den Hunger in ihrem Flackern. Ich sah, wie der Regen die entstehenden Flammen auslöschte, die zischenden Klagelaute erstickte.

Plötzlich lag ein statisches Knistern in der Luft. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Mein Gehirn konnte gar nicht schnell genug begreifen, was passierte, da explodierte meine Welt schon in grellweißem Licht. 

Ich wurde auseinandergerissen und mein Körper brannte, als wäre ich mit flüssigem Feuer übergossen worden. Die Hölle brach über mir herein und tunkte meine Welt für einen kaum wahrnehmbaren Moment in endlose Schmerzen. 

Dann setzte ein aufdringliches Piepsen in meinen Ohren ein und auf einmal fühlte es sich an, als wäre ein erdrückendes Gewicht von meinen Schulter gehoben worden. 

Ich schwebte. Losgelöst von der Erde. Losgelöst von meinen Problemen. Losgelöst von meinen Gedanken. Losgelöst von mir.

 Alles, was ich spürte, war das endlose Gefühl der Freiheit. Es öffnete sich vor mir wie eine weite Steppenlandschaft, ohne düstere Wolken, ohne erdrückende Gedanken.

Dann ertrank mein Verstand in grellem Licht. 

Im Himbeertörtchen spürt man den Regen nichtWhere stories live. Discover now