[2] Seltsam.

31 7 21
                                    

Zartes Sonnenlicht kitzelte meine Nase. Bedröppelt schlug ich die Augen auf, sah den hellen Streifen goldenen Sonnenlichts, der durch den geschlossenen Rollladen in mein Zimmer fiel und augenblicklich schwappte Freude durch jede Ader meines Körpers. Seltsam. 

Es war lange her, dass ich zum letzten Mal solche intensiven positiven Gefühle empfunden hatte. Irgendwie hatte ich vergessen, dass es überhaupt möglich war, so zu fühlen. Die plötzliche Konfrontation damit überforderte mich. Langsam setzte ich mich auf. Schlug die Decke zurück, dehnte die Müdigkeit aus meinen Armen. Stieg aus dem Bett, zog am Fenster den Rollladen hoch. Kaum hatte ich das Fenster geöffnet, umwehte frische Morgenluft meine Nase und ich atmete tief ein. 

Die Wintersonne war noch nicht ganz aufgetaut und die Vögel zwitscherten nur zaghaft, doch ich spürte die Vorfrühlingsstimmung in der Luft liegen. Ich spürte die Wärme der Sonne ungewohnt intensiv auf meiner Haut. Ein Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, doch ich konnte es nicht recht in Worte fassen. Es war, als hätte meine Haut das Sonnenlicht durchsickern lassen und in meinen Körper aufgenommen. Wärme. Geborgenheit. Freude. Seltsam. 

Als ich ins Sonnenlicht blickte, überkam mich ein merkwürdiges Déjà-vu. Das grelle, weiße Licht, zusammen mit diesem befreiten Gefühl ... dunkel glaubte ich, mich an etwas zu erinnern. Nur verschwommen setzte sich ein Bild vor meinem inneren Auge zusammen. Aber jedes Mal, wenn mein Verstand danach greifen wollte, waberte es außer Reichweite. Es war, als würde ich nach einer Wolke greifen, die sich jedoch verflüchtigte, sobald ich meine Faust um sie schloss. 

Da war eine Wiese, ein großes Feld. Dunkel. Wie ein Abgrund. Licht. Mehr erhaschte ich nicht, nur ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, das über allem schwebte. LICHT. Verschwommen, grell, Schmerz. Licht. War ich ... tot? Gestorben? So helles Licht, heller als– erschrocken zuckte ich zusammen. Hinter mir schrillte es ohrenbetäubend laut, sodass ich panisch herumfuhr und zu allem bereit war – erst nach einigen Schreckenssekunden realisierte ich, dass mein Handy der Übeltäter war. 

Ich wühlte durch die Laken, bis ich das leuchtende Display in den Händen hielt und runzelte die Stirn, als ich den Namen auf dem Bildschirm las. Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber ... Ja doch! Meine Therapeutin! Eilig nahm ich ab.

„Hallo Frau Shanee, hier ist Bea. Was-"

„Guten Morgen Bea." Sie räusperte sich. „Sind wir jetzt an dem Punkt angekommen, an dem du nicht mehr zu deinen Therapiesitzungen kommst? ... Hör mal, es fällt dir sicher nicht leicht, aber-"

Meine Augen weiteten sich. Scheiße! Die Therapiesitzung! Natürlich! Ein hastiger Blick auf die Uhr bestätigte es: Samstag, 11:20 Uhr. Verdammt. Zwanzig Minuten zu spät. 

„Entschuldigen Sie!", rief ich in den Hörer hinein und unterbrach damit Frau Shanees Empörungsrede, „aber ich hab verschlafen und hatte den Termin nicht mehr auf dem Schirm!"

Eine kurze Pause folgte. „Ach", machte Frau Shanee darauf nur, Verwunderung in der Stimme. „Nun ... wenn das so ist, dann kannst du auch den Termin um 12 Uhr wahrnehmen. Der ist heute Morgen frei geworden. Wäre das für dich möglich?"

„Ja", antwortete ich atemlos, „Gut, dann bis später!" und legte auf. Scheiße. Es würde knapp werden, aber in Vierzig Minuten war das zu schaffen. Jetzt Achtunddreißig Minuten. Mann!

Ich eilte aus dem Zimmer ins Bad und rutschte dabei fast auf einem noch feuchten Pulli aus, der auf dem Boden herumlag. Wieso war der so nass ... ? Egal! Beeilung! 

Zehn Minuten später stand ich unten in der Küche und schüttete mir hastig mein Frühstück zusammen. Quark mit Haferflocken und Nüssen, Beeren und Honig. Aus den Kartons kramte ich Schale und Besteck. 

Während ich aß – falls man das hektische Löffel um Löffel Herunterschlingen des Quarks denn als essen bezeichnen konnte – vernahm ich ein leises Pochen und Kratzen an der Balkontüre. Das musste Archie sein! Der arme Kater war sicher schon ganz ausgehungert! Auf dem Weg zur Balkontüre hätte ich fast die Umzugskartons umgestoßen, die sich auf dem Teppich stapelten und schlängelte mich vorsichtig um die restlichen herum. 

Sofort schlüpfte Archie mir wehklagend maunzend zwischen den Beinen hindurch, als ich die Türe öffnete, nicht ohne mich vorher mit einem vorwurfsvollen Blick zu strafen. 

Mein Frühstück war schnell beendet und meine Tasche gepackt. Auf dem Weg zur Türe ging ich alles noch einmal durch: Herd aus, Fenster zu, Schuhe und Jacke an, Portemonnaie, Handy, Wasser, Schlüssel- plötzlich kam mir ein zerzaustes Fellknäul in den Weg und ich stolperte. Archie machte maunzend auf sich aufmerksam. Verdammt, auch das noch! Ich hatte vergessen, seinen Futternapf zu füllen! 

So schnell ich konnte hastete ich zurück in die Küche. Dritte Schranktür von links, die mit dem Kleber in der unteren Ecke. Ich riss sie auf, kramte eine Dose Katzenfutter hervor und schabte ihm den Inhalt in seine Schüssel, so schnell ich konnte. 

Doch mitten in der Bewegung blieb ich mit meinem Jackenärmel an einem der Kartons hängen, die ich auf der Küchenanrichte gelagert hatte, bis ich zum Einräumen der Schränke kommen würde. Ich sah es passieren, noch bevor sich irgendetwas regte. Der Karton kippte. Gabeln, Löffel und Messer, Suppenkelle und Schneebesen verteilten sich in einem riesigen Chaos auf dem Küchenboden. Porzellanschüsseln zersprangen, Glasscherben schossen über den Boden. 

Das laute Scheppern schreckte Archie auf, der sprungartig ins Wohnzimmer flüchtete. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Verzweifelt blickte ich auf die Uhr. Nur noch wenige Minuten, bis meine Bahn fahren würde. Es war zwar nicht weit zur Haltestelle, aber ich konnte auch die Scherben nicht liegen lassen, mit einer Katze in der Wohnung ... kurzentschlossen nahm ich Archies Futterschale in die Hand und stellte sie neben den Esstisch, sein Wassernapf folgte. 

Ich schloss die Schiebetür zwischen Küche und Wohnzimmer sorgfältig und stellte einen Stuhl davor, damit Archie nicht auf die Idee kommen würde, sich seine Pfoten an den Scherben aufzuschneiden. 

Dann rannte ich. 

Im Himbeertörtchen spürt man den Regen nichtWhere stories live. Discover now