Kapitel 23

1 1 1
                                    

Der Treffpunkt war im Zentrum der Stadt. Ich musste die Straßenbahn nehmen, um dorthin zu gelangen und zum Glück hatten sich die Streiks bereits wieder gelegt. Die Gebäude hier waren hoch, verglast und auf gewaltigen Bildschirmen huschte Werbung vorbei. Die schiere Menge an Menschen machte mir deutlich, wie gewaltig diese Stadt eigentlich war im Vergleich zu den selbst größten Siedlungen meines alten Lebens. Trotz aller Brutalität und Krisen hatte sich die Menschheit fleißig vermehrt.

Eine leichte Desorientierung übermannte mich beinahe, als mir wieder ersichtlich wurde, wie stark ich eigentlich aus der Zeit gefallen war. Falls Nikki nicht kommen würde, hatte ich vor schnell von hier zu verschwinden.

Ich schaute auf meine Uhr. Der Sekundenzeiger läutete gerade die volle Stunde ein und unsere Treffzeit begann.

»Ein Brief? Wirklich?«

Überrascht schaute ich auf und sah in das geschminkte Gesicht von Nikki, die die Arme in die Hüften gestemmt hatte und vor mir stand.

Genau pünktlich? Wirklich? Beinahe wollte ich genau dies herausplaudern, doch ich beließ es bei einem: »Ich dachte nicht, dass du kommen würdest.«

»Bin selbst überrascht«, meinte sie kalt, doch ich sah wie sie ihre Hand hob und etwas mit ihrem Pferdeschwanz spielte. Ein Anzeichen, dass sie log.

»Wollen wir«, meinte ich und stand von der Bank auf.

»Wohin? Ich dachte du wolltest reden.«

»Will ich. Aber nicht hier.«


»Hier sind Ihre Tickets! Genießen Sie ihren Aufenthalt.«

Ich bedankte mich bei der Theke, gab einer fassungslosen Nikki ihre Karte und trat mit ihr in den blauen Korridor des Gebäudes, wo der Rundgang begann.

»Du hast hieran gedacht?«, meinte sie erstaunt.

»Ich will zugeben, dass ich es wegen all des Tumults im letzten Halbjahr kaum mehr auf den Schirm hatte, aber vergessen habe ich es nicht. Unser Versprechen.«

Das Licht dämmte ab. Ein blauer Schimmer legte sich über uns und bald schon waren wir von gläsernen Tanks umringt, in denen bunte Fische herumschwammen. Sofort presste sich Nikki gegen eine der Scheiben.

»Etwas antiklimatisch, dass sie die Nemos und Doris ganz am Anfang haben«, murmelte sie.

»Einmal pro Jahr ins Aquarium«, meinte ich derweil und betrachtete von der Seite her ihre Ohrringe, die die Form von kleinen Kraken hatten. »Wir waren gerade einmal sechs Jahre alt, als wir uns das Versprechen gaben. Zehn ganze Jahre haben wir es durchgehalten.«

»Und ich dachte schon, dass es dieses Jahr ausfallen würde«, sagte Nikki, trat von der Glaswand und sah mich fest an. »Ich weiß nicht, ob ich dir danken oder eine Ohrfeige geben sollte.«

»Ich verdiene Letzteres, denke ich mal.«

»Also wenn du eine Ohrfeige haben willst, dann verdienst du die auch nicht.«

Ich lachte leise und wir gingen weiter. Wir schritten vorbei an durchsichtigen Säulen in denen rote Quallen träge hoch und runter schwammen.

»Was denkst du?«, wollte ich wissen.

»Bin ich jetzt nur der Ersatz?«, fragte Nikki zurück und der Griff um ihre Tasche festigte sich. Die bunten Haianhänger daran schwangen dabei hin und her. »Jetzt wo es mit deinen Tanzfreunden nicht geklappt hat und dich fast alle anderen hassen?«

»Ich habe dich wirklich vernachlässigt letztes Halbjahr«, antwortete ich und legte die Hände hinter meinem Rücken zusammen. »Es tut mir leid. Wie viele Nachrichten von dir habe ich ignoriert?«

»156!«

»Hast du wirklich nachgezählt?«

»Habe ich!«, gab Nikki bestimmt zurück. »Du schuldest mir viel!«

»Also willst du wieder Zeit mit mir verbringen?«

Wie erreichten einige tief liegende Becken, in denen vor allem Flussfische träge trieben und näher ans Glas kamen. Da sie meisten bräunlich waren, beachtete Nikki sie kaum. Sie mochte starke, vibrierende Farben.

»Nur damit du beim nächsten Hobby wieder wegrennst und mit anderer Zeit verbringst?«

»Das Tanzen will ich nicht aufgeben«, entgegnete ich und ich sah, wie ihr Rücken steifer wurde. »Ich will weitermachen.«

»Alleine?«

»Vielleicht kann ich die anderen noch überzeugen. Vielleicht kann ich gut machen, was ich vermasselt habe. Ich glaube du hast noch niemanden von ihnen kennengelernt?« Ich lächelte die Kindheitsfreundin der alten Viola an. »Also ich will wieder Zeit verbringen mit dir. Ich will, dass du mich tanzen siehst.«

Wir erreichten den gläsernen Tunnel, der durch das Hauptbecken führte. Einige Wassernymphen sahen von der anderen Seite zu mir. Wir machten Augenkontakt und die Fabelwesen nickten.

Kurz darauf legten sich Schatten über uns.

»Wow!«, machte Nikki. Dutzende Rochen begannen über unsere Köpfe dahinzuschweben. Zwischen ihnen schwammen kleinere Haie und andere Einwohner des großen Beckens. Natürliches Sonnenlicht schien von oben heran und so verwandelte sich der Tunnel in ein flimmerndes Spiel aus Schatten.

Der Schwarm begann über uns kreisen.

»Können wir uns beim nächsten Schultag in der Pause treffen?«, fragte ich.

»Natürlich«, antwortete sie und rückte näher an mich heran. »Ah und tut mir leid, dass ich dich im Krankenhaus nie besucht habe.«

»Ich lebe noch«, sagte ich dazu nur. »Und ich habe erkannt, wie wichtig du mir bist.«

»Eine schmalzige Note hast du wohl auch bekommen, als du auf den Fußweg geknallt bist.«

»Es war ein Baum, Nikki.«

»Pff«, machte sie und ergriff meine Hand. »Los komm. Du hast die Tickets bezahlt. Ich gebe dir dafür einige Pommes aus. Auch will ich noch die Pinguine sehen.«

Die Rochen über uns verteilten sich wieder und die Nymphen winkten zu uns hinterher, als Nikki mich durch den Tunnel in Richtung des Innenhofes zerrte.



Ein Tropfen der GlückseligkeitWhere stories live. Discover now