1. Schwanensee

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Version Kamil Bednár

In einem fernen Königreich sprach die Königin am Vorabend seines achtzehnten Geburtstages zu ihrem Sohne: "Du bist nun schon alt genug, mein Sohn, um dir eine Braut zu suchen, die eines Tages an deiner Seite auf dem Throne sitzen wird."

Doch der Prinz dachte noch gar nicht ans Heiraten. "Damit quäle mich nicht, Mutter", sagte er und sah zum Fenster hinaus, wie sich die Bäume im Winde bogen. "Du musst heiraten, mein Sohn", drang die Mutter in ihn. "Was würden die Untertanen zu einem König ohne Königin sagen?" Der Prinz stieß einen Seufzer aus. "Was soll ich also tun, Mutter?" fragte er. "Ich werde es selbst einrichten", sagte die Königin. "Aber du musst mir folgen." Der Prinz seufzte ein zweites Mal. "Nun, wenn du meinst, Mutter, so werde ich dir folgen. Aber heute möchte ich noch gern auf die Jagd gehen." "Genieße die Freuden deiner Jugend", lächelte die Königin, "vergiss aber nicht, dass ich morgen ein großes Fest veranstalte, zu dem ich die schönsten Mädchen aus allen guten Familien, die es nur im Lande gibt, einladen werde. Und unter ihnen wirst du dir dann eine Braut aussuchen." "Du kannst sie mir selbst aussuchen", rief der Prinz aus, froh, dass das Gespräch schon endete. "Mir ist der Wind am liebsten und die weite Landschaft und Pferde und der Bogen und die Wälder." Und schon sah ihn die Königin nicht mehr. Mit seinem liebsten Gefährten Benno und einigen Männern aus seinem Gefolge war er bereits zur Jagd gestürmt. Den ganzen Tag saßen sie im Sattel, doch der Prinz hatte heute keine Freude am Weidwerk. Er jagte nur im wilden Ritt durch die Gegend. Etwas bedrückte ihn, aber er wusste nicht, was es war. Als der Prinz und seine Gefährten gegen Abend endlich müde und abgespannt zurückritten, gelangten sie plötzlich in die Nähe des Steinernen Haines. Es war ein Wald, über den so unheimliche Geschichten erzählt wurden, dass sich kaum jemand hineinwagte. Beim Anblick des Waldes überkam einen wirklich das Grauen. Selbst die Pferde stutzten vor dem düsteren Wald der Eichen, die wie aus Stein gemeißelt schienen.

"Sieh nur, Benno!" rief der Prinz plötzlich seinem Gefährten zu und zeigte hinauf zum dämmernden Himmel. "Schwäne, und was soll sein?" fragte Benno mit leichtem Achselzucken. "Aber der dort vorn, siehst du nicht?" rief der Prinz. "Bist du denn blind, Benno? Eine goldene Krone hat er auf dem Kopf! Das haben Schwäne doch nicht!" "Wirklich", nickte Benno. Merkwürdige Schwäne waren es, und am merkwürdigsten war jener, der an der Spitze der ganzen Schar flog. Sie glichen einer weißen Wolke, die eilig am Himmel zieht. "Den muss ich bekommen!" rief der Prinz aus. "Eine Schwanenkönigin sieht man nur einmal im Leben. Und manch einer sieht sie überhaupt nie!" Eine ungewisse Sehnsucht erfüllte sein Herz. Er spannte den Bogen. Doch er war nicht schnell genug. Die Schar war schon in den Tiefen des Waldes niedergegangen. Sie sprangen aus dem Sattel und liefen in den Wald. Dort umfing sie eine schaudererregende Stille. Die mächtigen Eichen glichen Felsen. Und das Moos war wie ein dicker Teppich. Sie bahnten sich einen \Weg durch das Unterholz, sie wussten selbst nicht, wohin. Plötzlich zeigte Benno nach vorn: "Ein See!" Im Dämmerlicht glänzte zwischen den Bäumen ein Silberspiegel. Sie bogen die letzten Äste des Dickichts auseinander, und standen überrascht am Ufer. Auf dem See schwamm eine Schar weißer Schwäne mit schlanken, langen Hälsen, und an ihrer Spitze glitt der schönste, schlohweißeste und zugleich der traurigste von ihnen erhaben über den Wasserspiegel, der Schwan mit der goldenen Krone auf dem Kopf. Der Prinz spannte den Bogen. Aber dann ließ er ihn wieder sinken. "Ich kann nicht schießen", stöhnte er auf. "Es ist mir, als sollte ich ein menschliches Wesen töten. Benno, das ist kein Schwan, das ist ein schönes Mädchen, das ist die Prinzessin, die ich suche, meine Braut!" "Bist du von Sinnen, Prinz?" schalt ihn Benno. "Du warst noch ganz außer dir vor Freude bei dem wilden Ritt, und jetzt auf einmal solche Reden! Oder hat dich etwas behext? Man sagt ja, der Steinerne Hain sei von Zauber umwoben." "Die Schwanenkönigin hat mich bezaubert", flüsterte der Prinz, und in seinen Augen schimmerte der Widerschein des Sees mit der weißen Schwanenschar.

MaerchenbuchWhere stories live. Discover now