12. Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen

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Ein Märchen der Brüder Grimm

Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit, und wußte sich in alles wohl zu schicken. Der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen, und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: "Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!" Wenn nun etwas zu tun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten; hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl: "Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es gruselt mir!" Denn er fürchtete sich. Oder wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal: "Ach, es gruselt mir!" Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte. "Immer sagen sie, es gruselt mir, es gruselt mir! Mir gruselt's nicht. Das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe."

Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach: "Hör, du in der Ecke dort, du wirst groß und stark, du mußt auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie dein Bruder sich Mühe gibt, aber an dir ist Hopfen und Malz verloren." - "Ei, Vater," antwortete er, "ich will gerne was lernen; ja, wenn's anginge, so möchte ich lernen, daß mir's gruselte; davon verstehe ich noch gar nichts." Der älteste lachte, als er das hörte und dachte bei sich: Du lieber Gott, was ist mein Bruder für ein Dummbart, aus dem wird sein Lebtag nichts. Was ein Häkchen werden will, muß sich beizeiten krümmen. Der Vater seufzte und antwortete ihm: "Das Gruseln, das sollst du schon lernen, aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen."

Bald danach kam der Küster zu Besuch ins Haus. Da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüßte nichts und lernte nichts. "Denkt Euch, als ich ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen." - "Wenn's weiter nichts ist," antwortete der Küster, "das kann er bei mir lernen; tut ihn nur zu mir, ich werde ihn schon abhobeln." Der Vater war es zufrieden, weil er dachte: Der Junge wird doch ein wenig zugestutzt. Der Küster nahm ihn also ins Haus, und er mußte die Glocken läuten. Nach ein paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, In den Kirchturm steigen und läuten. Du sollst schon lernen, was Gruseln ist, dachte er, ging heimlich voraus, und als der Junge oben war und sich umdrehte und das Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der Treppe, dem Schalloch gegenüber, eine weiße Gestalt stehen. "Wer da?" rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich nicht. "Gib Antwort," rief der Junge, "oder mache, daß du fortkommst, du hast hier in der Nacht nichts zu schaffen!" Der Küster aber blieb unbeweglich stehen, damit der Junge glauben sollte, es wäre ein Gespenst. Der Junge rief zum zweitenmal: "Was willst du hier? Sprich, wenn du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe dich die Treppe hinab." Der Küster dachte: Das wird so schlimm nicht gemeint sein, gab keinen Laut von sich und stand, als wenn er von Stein wäre. Da rief ihn der Junge zum drittenmal an, und als das auch vergeblich war, nahm er einen Anlauf und stieß das Gespenst die Treppe hinab, daß es zehn Stufen hinabfiel und in einer Ecke liegenblieb. Darauf läutete er die Glocke, ging heim, legte sich ohne ein Wort zu sagen ins Bett und schlief fort. Die Küsterfrau wartete lange Zeit auf ihren Mann, aber er wollte nicht wiederkommen. Da ward ihr endlich angst, sie weckte den Jungen und fragte: "Weißt du nicht, wo mein Mann geblieben ist? Er ist vor dir auf den Turm gestiegen." - "Nein," antwortete der Junge, "aber da hat einer dem Schalloch gegenüber auf der Treppe gestanden, und weil er keine Antwort geben und auch nicht weggehen wollte, so habe ich ihn für einen Spitzbuben gehalten und hinuntergestoßen. Geht nur hin, so werdet Ihr sehen, ob er's gewesen ist, es sollte mir leid tun." Die Frau sprang fort und fand ihren Mann, der in einer Ecke lag und jammerte und ein Bein gebrochen hatte.

Sie trug ihn herab und eilte mit lautem Geschrei zu dem Vater des Jungen. "Euer Junge," rief sie, "hat ein großes Unglück angerichtet, meinen Mann hat er die Treppe hinabgeworfen, daß er ein Bein gebrochen hat. Schafft den Taugenichts aus unserm Hause!" Der Vater erschrak, kam herbeigelaufen und schalt den Jungen aus. "Was sind das für gottlose Streiche, die muß dir der Böse eingegeben haben." - "Vater," antwortete er, "hört nur an, ich bin ganz unschuldig. Er stand da in der Nacht wie einer, der Böses im Sinne hat. Ich wußte nicht, wer's war, und habe ihn dreimal ermahnt, zu reden oder wegzugehen." - "Ach," sprach der Vater, "mit dir erleb ich nur Unglück, geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr ansehen." - "Ja, Vater, recht gerne, wartet nur bis Tag ist, da will ich ausgehen und das Gruseln lernen, so versteh ich doch eine Kunst, die mich ernähren kann." - "Lerne, was du willst," sprach der Vater, "mir ist alles einerlei. Da hast du fünfzig Taler, damit geh in die weite Welt und sage keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner schämen." - "Ja, Vater, wie Ihr's haben wollt, wenn Ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht tun."

MaerchenbuchWhere stories live. Discover now