17. Schneweißchen und Rosenrot

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Ein Märchen der Gebrüder Gimm

Eine arme Witwe lebte einmal in einer kleinen einsamen Hütte. Vor der Hütte lag ein Garten, in dem zwei Rosenbäumchen standen. Davon trug das eine weiße, das andere rote Rosen. Die Frau hatte zwei Kinder, die den beiden Rosenbäumchen so sehr glichen, daß das eine Schneeweißchen und das andere Rosenrot hieß.

Diese waren so fromm und gut, so fleißig und vergnügt, wie es noch nie zwei Kinder auf der Welt gewesen sind. Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Schmetterlinge. Schneeweißchen dagegen saß daheim bei der Mutter, half ihr im Haushalt oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, daß sie sich immer an den Händen hielten, so oft sie zusammen ausgingen. Und wenn Schneeweißchen sagte: "Wir wollen uns nicht verlassen" so antwortete Rosenrot „So lange wir leben, nicht", und die Mutter setzte hinzu: „Was das eine hat, soll es mit dem anderen teilen".

Oft liefen die zwei ganz allein im Wald umher und sammelten rote Beeren, aber kein Tier tat ihnen etwas zuleide, sondern sie kamen zutraulich herbei. Das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen, das Reh graste an ihrer Seite, der Hirsch sprang ganz lustig vorbei, und die Vögel blieben auf den Ästen sitzen
und sangen, was sie nur wußten. Nie widerfuhr ihnen etwas Böses. Wenn sie sich im Walde verspätet hatten und die Nacht sie überfiel, legten sie sich nebeneinander auf das Moos und schliefen, bis der Morgen kam. Die Mutter wußte das und machte sich darum keine Sorgen.

Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten und das Morgenrot sie weckte, sahen sie eine schöne Gestalt in einem weißen glänzenden Kleid neben ihrem Lager sitzen. Die stand auf, blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts und ging in den Wald hinein. Und als sie sich umsahen, hatten sie ganz nahe an einem Abgrund geschlafen und wären gewiß hinabgefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weitergegangen wären. Sie liefen schnell heim und erzählten der Mutter davon, die ihnen sagte, das müßte der Schutzengel gewesen sein, der alle guten Kinder bewache.

Schneeweißchen und Rosenrot hielten die Hütte der Mutter so rein, daß es eine Freude war hineinzuschauen. Im Sommer besorgte Rosenrot das Haus und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe diese aufwachte, einen Blumenstrauß ans Bett, mit einer roten und einer weißen Rose, von jedem Bäumchen eine. Im Winter zündete Schneeweißchen das Feuer an und hing den Kessel an den Feuerhaken. Der Kessel war aus Messing, glänzte aber wie Gold, so rein war er gescheuert. Abends, wenn die Flocken fielen, sagte die Mutter: „Geh, Schneeweißchen, und schieb den Riegel vor." Dann setzten sie sich an den Herd, die Mutter nahm die, Brille und las aus einem großen Buch vor, und die beiden Mädchen hörten zu und spannen. Neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden, und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen und hatte seinen Kopf unter den Flügel gesteckt.

Eines Abends, als sie wieder so vertraulich beisammen saßen, klopfte jemand an die Türe, als wollte er eingelassen werden. Die Mutter sprach: „Geschwind, Rosenrot, mach auf! Es wird ein Wanderer sein, der Obdach sucht." Rosenrot ging, schob den Riegel zurück, denn es dachte, da stände ein armer Mann.

Es war aber ein großer Bär, der seinen dicken schwarzen Kopf zur Türe hereinstreckte. Rosenrot schrie laut auf und sprang zurück, das Lämmchen blökte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter dem Bett der Mutter. Da fing der Bär an zu sprechen und sagte: „Fürchtet euch nicht, ich tue euch nichts zuleide. Ich bin halb erfroren und will mich nur ein wenig bei euch wärmen." „Du armer Bär", sprach die Mutter, „leg dich ans Feuer, gib aber acht, daß dir dein Pelz nicht anbrennt." Dann rief sie: „Schneeweißchen, Rosenrot, kommt hervor! Der Bär tut euch nichts; er meint es ehrlich." Da kamen sie beide heran, und nach und nach näherten sich auch das Lämmchen und Täubchen und hatten keine Furcht mehr vor ihm. Der Bär sprach: „Ihr Kinder, klopft mir den Schnee ein wenig aus dem Pelz!" Da holten sie einen Besen und kehrten dem Bären das Fell rein. Der streckte sich wohlig am warmen Feuer aus und brummte ganz vergnügt und behaglich.

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