23

202 34 42
                                    

Das Einzige woran ich diesen Morgen denken konnte war meine Angst, meine Angst die Wahrheit zu erfahren. Nein, das beschrieb es nicht so recht. Ich hatte Angst vor einer Wahrheit, die mir nicht gefallen würde, obwohl jede schlimm sein konnte. Ich sortierte die verschiedenen Wahrheitsängste immer wieder in meinen Gedanken. Die Erste war, dass sie mir allein die Schuld dafür gab, aber das war nichts Neues. Die Zweite war, dass sie irgendwelche komischen Leute kennengelernt hatte, doch das war eher unwahrscheinlich. Die Dritte und letzte wäre enttäuscht zu werden, jedoch wusste ich, dass sie so etwas niemals gemacht hätte, um Mitleid zu bekommen. Ich war also noch nicht schlauer als vor drei Monaten, doch heute konnte ich an nichts anderes mehr denken. Die ganzen letzten Wochen hatte ich diesen Brief vollkommen beiseitegeschoben, doch nun kam alles nach und nach und erdrückte mich beinahe.

»Lass mich bitte fahren.«, bat mich Tyler, wobei ich die Sorge in seiner Stimme wahrnahm. Er hatte dieses Mal Recht, ich war zu abgelenkt, um mich auf die Straße konzentrieren zu können.

»Also gut«, seufzte ich schon fast, wobei ich mir ein wenig wie ein mauliger Teenager vorkam, dessen Eltern ihm mal wieder verboten hatten auf eine Party zu gehen. Würde es heute endlich ein Ende haben? Ich konnte es niemals komplett aus meinem Gedächtnis streichen, aber das wollte ich auch nicht, denn genau das war falsch. Im Leben ging es darum Erfahrungen zu sammeln, davon waren einige gut und andere schlecht. So lief es nun mal, doch gerade die schlechtesten Zeiten konnte man irgendwie überwinden, vielleicht gab es aber auch ein paar Ausnahmen. Ich sah mit starrem Blick aus dem Autofenster hinaus. Es war kaum zu glauben wie fremd mir London nach den paar Wochen geworden war. Nicht einmal vor einem Monat war ich noch hier in meinem Zuhause und grübelte vor mich hin. Vielleicht war es doch richtig gewesen die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ich dachte jedoch nicht einmal daran meine Freunde zu vergessen, dafür waren sie mir zu wertvoll.

»Fahre ich noch richtig?«, erkundigte sich Tyler, nachdem wir erst gestern noch den Stadtplan durchgegangen waren.

»Ja, die nächste rechts und dann am blauen Haus halten.«, erklärte ich ihm mit einem müden Lächeln. Mein Herz begann langsam aber sicher zu rasen. Es war nicht mehr lange. Heute Nacht war es wie früher gewesen, obwohl es traumlos zuging. Während andere sich über ihre Träume freuten, war ich heute morgen grinsend neben Tyler aufgewacht, da ich nicht wie sonst auch tränennass aufwachen musste, dieses Mal war es allein die Sonne gewesen, die sich den Weg durch die Jalousien gebahnt hatte. Ich hatte keine Ahnung woran es gelegen haben musste, vielleicht war es ja das Bewusstsein der baldigen Erkenntnis, aber es konnte gern so weitergehen. Ich hatte genug von den langen Nächten.

Als wir dann in die Einfahrt des alten Hauses bogen, konnte ich Lucy und mich mit sechs im Vorgarten spielen sehen. Wir waren fast immer draußen gewesen, ganz gleich wie kalt oder warm es auch war.

Ich spürte die Eiseskälte des Schneeballs in meinen Nacken wandern, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Einen Aufschrei konnte ich leider nicht verhindern, während Lucy lachend hinter mir zu Boden fiel.

»Du müsstest mal dein Gesicht sehen.«, quetschte sie hervor. Ihre dunkelgrüne Daunenjacke hatte sich dank des tiefen Schnees langsam aber sicher weiß verfärbt.

Das konnte ich nicht einfach so auf mir sitzen lassen. Meine Hand wanderte ganz automatisch auf den Boden herab, umfasste eine Handvoll Schnee, die ich dann zu einer leichten Kugel zusammenpresste, damit sie auch ja leicht zerbröseln konnte.

»Warte ab!«, übte ich meinen Kampfschrei aus und ließ mich dabei schnell neben sie auf die Knie fallen, wobei ich ihr den Schneeball ins Gesicht rieb. Sie versuchte sich natürlich zu wehren, lachte aber dennoch einfach weiter.

»Wir sind quitt!«, quetschte sie hervor und wischte sich mit den blauen Handschuhen, über ihr vor Kälte, rotes Gesicht.

»Kate?«, riss mich Tyler zurück in die Wirklichkeit. Es waren gute Erinnerungen hier, außer vielleicht die als wir ihren Hund Taby beerdigen mussten, aber daran wollte ich wirklich nicht denken.

Die Stille nach dirWhere stories live. Discover now