» Abschied

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Als ich eine Weile - mir kam es vor wie endlose Minuten - auf dem Hocker saß und zu Bill und Tom sah, erhob ich mich endlich und ging in langsamen Schritten in die Richtung meines Platzes. Als ich an dem Sarg meiner Schwester vorbei kam blieb ich abrupt stehen und ging - soweit es die Gestecke und Blumen es zuließen - auf ihn zu. Ich ließ meine Fingerspitzen über ihn gleiten und stieß nur eine Flüstern aus: My Immortal, nur für dich, meine Kleine.

Ich wollte lächeln, doch es ging nicht, ich konnte nicht - egal, wie sehr ich mich anstrengte. Ich versuchte es mir mit aller Kraft, die ich noch besaß, auf meine Lippen zu drücken, doch alles, was ich schaffte, war einen lauten Schluchzer von mir zu geben.
Ich wollte wieder zurück zu Bill und Tom auf die Bank, wollte mich hinsetzen, weil ich das Gefühl hatte, keine Kraft mehr zu haben, um auf meinen eigenen Beinen zu stehen, doch ich schaffte es nicht. Ich konnte meinen Fuß nicht vor den anderen setzen. Irgendetwas in mir ließ es nicht zu, ließ mich auf der Stelle gefrieren.
Hilfesuchend sah ich zu den Zwillingen hinüber, als ich urplötzlich ganz in Tränen ausbrach, meine Hände vor mein Gesicht warf und auf meine Knie sackte.
Sofort spürte ich zwei verschiedene Hände unter meinen Armen, die mich wieder auf die Beine zogen und mich zur Bank brachten, auf welche ich mich fallen ließ. Sofort drehte ich meinen Kopf auf die linke Seite und vergrub ihn in Bills Armen.
Den Rest der Trauerfeier bekam ich nicht mit. Es wurden viele Worte an mich gerichtet - von dem Kinderheim, in welchem Beccy und ich damals zuhause waren, von den Ärzten und Pflegern und von Anna.
Ich bekam es nicht mit, saß einfach nur da und schluchzte in Bills Armen, wurde immer wieder von Krämpfen heimgesucht, die mich zusammen zucken und noch weiter und lauter weinen ließen.
Meine Gedanken schweiften immer wieder zurück in die Vergangenheit. Zu dem Punkt, als ich meine Schwester das erste Mal in den Armen hielt, sie das erste Mal sah, bis über den Tod meiner Mutter, wie wir ihn zusammen überwunden hatten und bis hin zu unserem Heimaufenthalt und ihrer Diagnose. Die Gedanken brachen dort ab, wo sie so hilflos in ihrem Bett lag, blau angelaufen war, kalt war und schwitzte. Sie brachen dort ab, wo sich ihr Leben zum Ende neigte.
"Lynn, komm her.", ich bekam nicht einmal mit, wie die Trauerfeier in der Kapelle zu Ende war und der Sarg von dem kleinen Podest genommen wurde. Als die Träger neben den Bänken im Gang der Kapelle standen und warteten, dass die Trauergäste sich hinter dem Sarg aufstellten, um ihn zum Grab begleiteten, zuckte ich kurz zusammen, da ich aus Bills Armen gehoben wurde.
Ich wurde hoch auf meine Füße gezogen, um mich hinter den Sarg zu stellen. Ich war die nächste Angehörige; die, die ihr Leben mit Beccy geteilt hatte. Als ich in kleinen Schritten - bei Tom und Bill eingeharkt - hinter dem Sarg herging und die anderen Trauergäste es mir gleich taten, erkannte ich, wer die Sargträger waren: Gustav, Georg, David und der andere Mann im schwarzen Anzug, welchen ich auch von Universal vermutete. Mir kamen wieder die Tränen, welche ich mit Mühe zu verhindern versuchte. Doch es gelang mir nicht. Ich war so darauf fixiert auf den Sarg zu starren und einen Fuß vor den anderen zu setzen, um nicht zusammen zu brechen, sodass die Tränen einfach meine Wangen hinunter liefen.
Auch als wir vor dem großen Loch standen und Beccy's Sarg sich über eben jenem befand, hatte ich nur die Gedanken an sie in meinem Kopf, den Blick wie starr auf den weißen Kasten gerichtet und die Augen voller Tränen. Was der Pastor sagte, bekam ich wieder nicht mit, ließ alles an mir vorbeigehen wie in einem schlechten Kinofilm.
"Lynn, komm mit.", eine Hand löste sich von meinem Arm und mir wurden ein Teddy und eine rote Rose in die Hand gedrückt; es kam von Tom.
Ich sah zur Seite, wo Bill mich immer noch stützte und mir ermutigend zunickte. Langsam gingen wir ein paar Schritte nach vorne, bis wir vor dem Loch standen, in welches der Sarg von Beccy gelassen wurde. Vorsichtig sah ich hinunter, sah auf den Sarg, welcher mit roten Rosen geschmückt war.
"Beccy.", wisperte ich leise und merkte, wie mir erneut Tränen über die Wangen rannen. "Ich... du... du kannst mich nicht alleine lassen.", so sehr ich es auch wollte, ich konnte mich nicht zurück halten. Bill hatte Mühe mich zu halten, doch je doller ich mich anstrengte, mich selbst zu halten, desto mehr sackte ich in mir zusammen. Ich wollte am liebsten da liegen, wo Beccy lag. Sie hatte das Ganze doch gar nicht verdient.  



Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWhere stories live. Discover now