7. Kapitel

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Verwirrt starre ich die geschlossene Tür vor mir an. Die Stille um mich herum erdrückt mich, aber ich realisiere es nicht. Denn in meinen Gedanken wiederholt sich immer wieder Livs letzter Satz. »Es tut mir leid.«

Was tut ihr leid? Dass sie mich heute Nachmittag nicht sehen wird, falls meine Anwältin es überhaupt durch bekommt, dass bei meiner Hinrichtung jemand anwesend sein darf?
Dass sie mich in den letzten Jahren nicht so oft besucht hat?
Dass sie mir nicht mehr viel über ihr Leben erzählte? Auf diese Fragen werde ich wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen, aber dennoch schwirren sie in meinem Kopf umher.

Langsam gehe ich einige Schritte rückwärts und setze mich auf meinen Stuhl, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet. Dabei wird sie sich nicht nochmal öffnen, um mir die Chance zu geben, Liv genau diese Fragen zu stellen. Denn es lässt mir keine Ruhe.

Genauso frage ich mich, warum sie mir erzählt hat, dass sie nur Idioten als Kerle getroffen hat. Sie hat mir nie was von ihren Beziehungen erzählt, sondern immer nur Claire. Was ich verständlich fand. Schließlich reden die meisten Töchter über so etwas mit ihrer Mutter, nicht mit ihrem Vater. Warum also hat sie jetzt damit angefangen? Warum erzählt sie mir an meinem Todestag davon? Jetzt, wo ich nichts mehr ändern oder ihr helfen kann.

Verzweifelt fahre ich mir mit den Händen über das Gesicht. Ich lasse meine Gespräche mit Claire Revue passieren. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mir gegenüber mal etwas von einem Freund erzählte, den Liv hatte. Entweder, um mich nicht zu beunruhigen, oder aber, weil auch sie nichts davon wusste.

Meine Gedanken fangen an, sich zu überschlagen. Liv hat ihr doch eigentlich immer alles erzählt. Warum sollte sie ihr ausgerechnet so eine Information vorenthalten?
Wie gerne würde ich einfach noch einmal mit ihr darüber reden. Oder mit Claire. Aber das geht nicht. Meine gemeinsame Zeit mit ihnen ist um, vorbei. Für immer.

Ich schlucke und löse meinen Blick von der Tür, als ich dahinter Stimmen wahrnehme. Es könnte so einfach sein, noch Antworten zu bekommen. Aber in meiner Situation ist es unmöglich.

Ein Schlüssel wird in das Schloss gesteckt und herumgedreht. Dieses Geräusch ist mir inzwischen erschreckend bekannt.
»Sie haben-« Die Stimme des Wärters wird barsch unterbrochen. »Ich weiß, wie viel Zeit ich mit ihm habe. Schließlich habe ich das selbst ausgehandelt«, zischt eine energische, weibliche Stimme.

Connor, der heute scheinbar meinen ganz persönlichen Baysitter spielen muss, brummt irgendwas unverständliches vor sich hin. Dann öffnet er die Tür vollständig und gibt mir somit den Blick auf meine Anwältin, Marina Stark frei. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, wie klein sie ist.

Sie reicht dem stämmigen Wärter gerade mal bis zur Brust, obwohl sie schon Schuhe mit Absätzen trägt. Ihre glatten, dunklen Haare hat sie sich hinter die Ohren geklemmt, einige widerspenstige Strähnen haben sich aber mittlerweile schon selbstständig gemacht und hängen ihr um das energisch vorgestreckte Kinn.
Sie hat ihre dunklen Augen leicht zusammen gekniffen und funkelt Connor erwartungsvoll an, als sie in dem kleinen Raum stehen bleibt. Ich höre sein mürrisches Brummen, dann schließt er die Tür.

Ein Seufzen kommt der Anwältin über die Lippen. Als sie ihren Kopf zu mir wendet, verschwindet dieser energische, selbstsichere Ausdruck auf ihrem Gesicht. Mit einem Finger reibt sie sich über ihre spitze Nase, dann kommt sie auf mich zu und setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. Mit einem lauten Klatschen landen die Akten, die sie unter dem Arm geklemmt hatte, zwischen uns auf dem Tisch. Leicht ziehe ich meine Augenbrauen hoch. Der Stapel ist höher als bei jeder anderen Begegnung von uns.

Langsam löse ich meinen Blick von dem Haufen Papier und sehe ihr in die Augen. Diese zucken leicht zur Seite und ich spanne mich an, da ich es nicht mag, so konzentriert gemustert zu werden.
»Wie geht es dir?«, fragt sie gerade heraus, als sie wieder Blickkontakt hergestellt hat. Ihre Stimme hört sich ruhig an, gefasst, obwohl ihr Blick weiter abwartend auf mir liegt.

Sentenced - The last dayWhere stories live. Discover now