Kapitel 1

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Meine Hand fuhr über meinen Bauch, über die leichte Wölbung zu meinen spitzen Hüftknochen, wieder zurück, meinen Rippenbogen entlang. Ich zählte leise im Kopf mit.

Erste. Ich habe Angst. Zweite. Ich will es schaffen. Dritte. Ich will aus dem Fenster springen. Vierte. Ich will mich verkriechen und nie wieder hervor kommen. Fünfte.

In diesem Moment wurde ich unterbrochen.

„Wir müssen los", sagte meine Mutter, die kurz ihren Kopf in mein Zimmer gesteckt hatte. Die Worte drangen nur leise durch zu meinem Gehirn, Angst drohte mich für einen Moment zu überwältigen, mein Atem stockte und meine Handflächen wurden schwitzig. „Los". Das hieß, ich müsste jetzt aufstehen und mein Zimmer verlassen, auf unbestimmte Zeit. Ich müsste jetzt aufstehen, nach unten gehen, mich anziehen. Meinen großen schweren Koffer nehmen, mit all den Erinnerung. Und doch ist er zu leer, zu leicht. Aber so ist das nun mal mit dem Neu-Beginnen. Man muss auch Sachen, Dinge, Erinnerungen, Menschen zurück lassen können.

Meine Mutter schaute mir zu, wie ich meinen Koffer über die Türschwelle wuchtete, ihn die Treppe runter zerrte und, völlig außer Atem, ihn im Kofferraum verstaute. „Fertig?" Ich nickte.

Meine Mutter seufzte und stieg ein. Schuldgefühle stiegen in mir auf, meine Gedanken donnerten los, vergeblich versuchte ich sie wieder zurück zu drängen.

Sie hat schon so viel zu tun. Und du? Du bereitest ihr nur noch mehr Arbeit. Du bist ihr Problemkind. Du bist doch nicht mehr ganz richtig und wo landest du jetzt? In der Klinik, in der Klapse. Da, wo nur Psychos hinkommen, Psychos wie du.

Ich stieg ein, verstaute meinen Rucksack zwischen meinen Beinen und stöpselte meine Kopfhörer ein. Die Musik auf vollste Lautstärke gedreht, legte ich meinen Kopf an das kühle Fenster und betrachtete die Landschaft, die an uns vorbeizog. Die hohen Häuser der Stadt wurden zu kleineren Mehrfamilienhäusern, die schließlich Feldern wichen. Es fehlte nur noch Regen und passende Musik, dann hätte es genauso gut eine kitschige Stelle aus einem kitschigen Film sein können. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln, der Zusammenhang war so komplett absurd in meiner Situation, das es einfach nur noch lächerlich wirkte.

Ich würde eh nie in einem Film mitspielen können. Nicht gut genug, schauspielern habe ich zwar mehr oder weniger in letzter Zeit gelernt, doch für einen Film würde es nie reichen.

Ich warf einen Blick zu meiner Mutter, versuchte ihre Gedanken zu erraten. Sie schaute konzentriert auf die Straße, eine steile Falte hatte sich auf ihrer Stirn gebildet. Sie wirkte alt. Uralt, mit dem braunen Haar und den grauen Strähnen, mit den müden Augen und ihrer schicken Kleidung. Sie wirkte ausgelaugt, leer, verloren. Und ich verstand es. Ich habe es jedes Mal verstanden, wenn sie mich wütend anschrie, ich hab es jedes Mal verstanden, wenn sie stumm weinte und ich verstand es jedes Mal, wenn sie nachts in der Küche saß und sich betrank, um einmal ihr erbärmliches Leben zu vergessen.

Und ich habe nie etwas getan, ich habe immer nur zugeschaut, als stummer Beobachter. Es war wie meine eigene, kleine, schreckliche RealityTV-Show und ich konnte nur zusehen.

Ich wünschte, ich hätte was getan.

Dann säße ich vielleicht nicht hier mit ihr im Auto, würde vielleicht nicht die Welt in zu lauter Musik ersticken und würde ihr vielleicht nicht noch mehr Stress machen.

Die Fahrt verging viel zu schnell und als ich letztendlich aussteigen musste, wurde ich das Gefühl nicht los, die letzte Chance verpasst zu haben, um mit meiner Mutter zu reden. Ich glaubte nicht, dass sie mich besuchen kommen würde in dieser unbestimmten Zeit.

Das Gebäude, in dem ich die nächsten Wochen und Monate verbringen würde, sah aus wie ein Krankenhaus. Groß und hell.

Etwas zitternd holte ich meinen Koffer aus dem Kofferraum und blieb unschlüssig neben dem Auto stehen. Meine Mutter war ausgestiegen, sah mich genauso unschlüssig an und versteckte dann wieder ihre Emotionen hinter einer starren Maske. Was hatte ich auch anderes erwartet? Das sie jetzt anfängt mir Aufmerksamkeit zu schenken und mir hilft? Ja, klar, nur weil ich jetzt in einer Klinik bin und ein ziemlich großes Problemkind, interessiert sie sich jetzt für mich.

entwurf.odtWhere stories live. Discover now