Kapitel 3

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Ich saß am Rand und beobachtete die anderen. Sie quatschten und lachten, redeten laut durcheinander. Wir saßen im Gemeinschaftsraum, der an sich ganz schön war: Hohe, helle Wände, hohe Fenster, alles sehr freundlich und offen. Ein Betreuer saß zum Aufpassen daneben. Gleich würden wir los gehen, spazieren.

Ich zog meine Beine enger an mich und versuchte mich so klein zu machen, wie möglich. Vielleicht würden sie mich dann übersehen und ich müsste nicht mit nach draußen. Ich könnte abhauen und mich irgendwo von einer Brücke stürzen. Machte es denen etwas aus, wenn ich bei dem Spaziergang ausversehen über die Straße laufe ohne zu gucken? Und ich dann vielleicht ganz zufällig überfahren werden würde? Bevor ich weiter in meinen Suizidfantasien versinken konnte, kam ein Mädchen auf mich zu. Blass und unglaublich dünn. Ihre Beine sahen aus, als würden sie gleich durchbrechen, genauso wie ihre dünnen Ärmchen. Die Haut spannte sich über ihre Knochen, man sah jeden einzelnen. Ihre großen blauen Augen musterten mich. Sie hatte wunderschöne lange blonde Haare, die ihr in sanften Wellen über den Rücken fielen.

Sie sah aus wie eine kleine Elfe, eine Fee: Wunderschön, elegant, nicht von dieser Welt. Als würde sie nicht zu uns Menschen gehören. Ich kam mir noch fetter vor als sonst, neben ihr.

"Hallo", sagte sie lächelnd. Ihre Stimme klang sanft und schön. Hatte dieses Mädchen denn überhaupt Fehler? Hatte sie auch so viele Ecken und Kanten? "Hi", antwortete ich zögernd, merkte schon wieder, wie sich mein Hals zuschnürte und mein Herz anfing zu rasen. "Ich bin Rebecca. Wie heißt du?", versuchte sie mich in ein Gespräch zu verwickeln. "Leea", antwortete ich knapp. "Das ist ein schöner Name", antwortete Rebecca und lächelte. Wenn sie lächelte sah sie noch hübscher aus, musste ich feststellen, total fasziniert von ihrer Schönheit und ihrer Art. Ich versuchte ebenfalls zu lächeln, aber es sah wahrscheinlich eher aus wie eine Grimasse, eine verzerrte Fratze.

"Weswegen bist du hier?", fragte sie mich. Entweder sie versuchte nur interessiert zu wirken oder sie war es wirklich - ich konnte das nicht auseinanderhalten. "Ich hab mich selbst eingewiesen", antwortete ich zögerlich. Rebecca schaute mich weiterhin erwartungsvoll an, sie wollte wahrscheinlich, dass ich ihr meine halbe Lebensgeschichte erzähle. "Selbstmordgedanken, SVV, Angststörungen, das ganze Zeug halt", ergänzte ich also und lächelte schief.

"Oh", sagte Rebecca. 'Oh', dachte ich, das sagen Menschen, die anderes von dir erwartet hätten. Vielleicht war sie enttäuscht von meiner Antwort - aber was war an ihr enttäuschend? "Warum bist du so überrascht?", fragte ich nach. "Naja, du bist so dünn, ich dachte, nunja, vielleicht wärst du magersüchtig"

Ich schwieg. Meine Gedanken nicht. Meinte sie das ernst? Rebecca wiegt wahrscheinlich weniger als die Hälfte von mir. Ich bin dick, das weiß ich, ich habe keinen schönen Körper - sieht sie nicht das ganze Fett, was ich mir angefressen habe? Sie macht sich bestimmt lustig über mich, ja, das muss es sein. Sie, mit ihren großen Unschuldsaugen und den langen Feenhaaren, sie macht sich über mich lustig, verspottet mich. Was sonst sollte sie tun? Mich beneiden? Um meinen Babyspeck, um die Fettröllchen und -polster?

"Ich bin hier, weil sie behaupten, ich sei magersüchtig", sagte sie nach einer Weile. Sie hatte nur das offensichtliche ausgesprochen. Ich schwieg weiterhin und irgendwann stand sie auf und ging und ich atmete erleichtert auf, bis verkündet wurde, dass wir jetzt losgehen würden.

Die Klinik lag am Rande einer kleinen Stadt, ruhig und hübsch. Gerade mal drei Minuten von der Klinik entfernt gab es einen Wald, durch den wir spazierten. Es roch noch ein bisschen nach Regen und überall tropfte es noch von den Bäumen. Man hörte Vögel überall zwitschern, wir entdeckten zwischen den Bäumen sogar ein Reh. Die Luft duftete nach nassem Laub und nassem Gras, die Gespräche der anderen waren größtenteils verstummt. Es war kühl, fast schon kalt, doch in der Sonne wurde einem angenehm warm. Niemand sprach mich an, ich war sehr froh darüber. Neben mir lief Spencer, aber wie schon im Unterricht redeten wir nicht. Es war eine angenehme Stille, so eine, wo es eher unangenehm war, wenn man sie unterbrach. Manchmal schaute ich kurz zur Seite, schielte heimlich zu ihm rüber. Seine türkisen Haare, dazu diese grauen Augen - er sah gut aus.

Den Rest der Zeit über betrachtete ich den Boden. Ameisen wechselten sich mit Blättern und Kienzapfen ab, mit Erde und vereinzelten Steinen, Stöckern und Ästen, Moos, Gras und Brennnesseln. Ich liebte diese Ruhe, die doch voller Lebendigkeit steckt.
Wir waren ungefähr eine Stunde in dem Wald, bis wir zurück zur Klinik gingen.
Die frische Luft hatte gut getan, mein Kopf war freier geworden. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt.
Ich glaube, ich stelle mir immer alles schlimmer vor.
Nach dem Spaziergang gab es eine kleine Zwischenmahlzeit.
Obst.
Die anderen quatschen weiter, bekamen nicht mal mit, dass sie gerade aßen. Sie schoben sich das Essen in ihren Mund, als wäre es normal - und das war es für sie ja auch.
Während ich an die Kalorien dachte. Die Kalorien, die selbst in diesem Apfel vor mir steckten.
Und ich dachte an Rebecca, wie dünn sie war, wie wunderschön - ich wette, sie aß auch nicht.
Ich ließ mein Blick durch den Raum streifen, meine Augen suchten Rebecca. Vielleicht wurden die Essgestörten in einem anderen Raum dazu gezwungen zu essen.
Das würde Sinn machen, diese Essensüberwachung.
Ich merkte, dass einer der Betreuer mich anschaute. Er hatte wohl bemerkt, dass ich nichts gegessen hatte, also senkte ich meinen Blick und begann den Apfel in kleinen Bissen aufzuessen.
Mir war schlecht.

Die zweite Nacht in der Klinik war nicht besser als die erste.
Die Monster in meinem Kopf flüsterten mir Alpträume ein, ich war eingenommen von den Ängsten, die auf mich einprügelten.
Ich hatte keine Kraft mehr. Ich lag da, wie eine Leiche, eine leblose Hülle, vollkommen ausgelaugt. Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren, gegen die Ängste, die Alpträume.
Es war wie ertrinken: Du versuchst nach oben zu schwimmen, deine Lungen kreischen nach Luft, aber du wirst immer weiter nach unten gezogen. Immer weiter, bis du nicht mehr gegen hältst. Bis du dich nicht mehr wehrst gegen den Strudel aus Ängsten und Sorgen, dich nicht mehr wehrst gegen die Dunkelheit, gegen den Schmerz, der dich komplett einnimmt.
Bis du selbst den Schmerz nicht mehr spürst.
Ertrinken im Trockenen, dachte ich.
Verhungern, neben Essen im Überfluss.
Verdursten, in einer Wüste aus Einsamkeit.
Untergehen in der Masse.
Ich lag da und weinte.
Ich war zu schwach um richtig zu weinen, also rollte ich mich zusammen, presste meine Hände auf meinen Bauch und versuchte normal zu atmen.
Schluchzen, nach Luft schnappen.
Mir wurde schwindelig.
Ich versuchte aufzustehen.
Die Welt schwankte.
War ich auf einem Schiff?
Mir wurde schwarz vor Augen - war das der schwarze Ozean, der mich endgültig verschlingen wird?
Ich fiel.
Erst merkte ich es gar nicht, wie die Welt plötzlich kippte - erst langsam, dann immer schneller, bis sie sich vollständig drehte, ein Wirbel aus schwarzer Dunkelheit.
Ich wollte schreien, aber mein Mund war zu trocken, ich hatte nicht genug Luft.
Erstickte ich?
Die Tür ging auf, Licht fiel in das Zimmer.
Ein Betreuer kniete sich neben mich, rief Sachen in den Flur.
Menschen um mich herum.
Gehetzte Gesichter - warum sind sie gehetzt?
Wegen mir? Weil ich ertrinke?
Ich habe Durst, denke ich.
Wie kann man Durst haben, wenn man Wasser atmet?
Schwärze.

Ich saß am Meeresboden. Um mich herum schwammen Fische.
Neugierig schwammen sie an mir vorbei, versteckten sich vor mir, beobachteten mich heimlich.
"Ich tu euch nichts", wollte ich sagen, aber es kamen nur Luftblasen aus meinem Mund, kein einziger Laut.
Ich runzelte die Stirn - warum hörte man mich nicht?
Schall kann sich auch unter Wasser ausbreiten. Ich müsste in einem Vakuum sein, damit man mich nicht hören könnte.
Und dann begriff ich - Ich war das Vakuum.

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⏰ Last updated: Jul 11, 2016 ⏰

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