Kapitel 2

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Es war meine erste Nacht in der Klinik – und ich war allein. Das Mädchen, welches sonst mit mir in einem Zimmer gewohnt hätte, musste heute ins Krankenhaus eingewiesen werden. Danach kam sie wahrscheinlich in die Geschlossene. Irgendwo in mir drin war ich froh darüber alleine zu sein, ich wollte nicht, dass auch nur irgendjemand mich in so einem Zustand sah.

Meine Gedanken waren zwar egoistisch, aber es war mir egal – so wie ich da lag, als kleines Häufchen Elend, hätte ich soziale Kontakte nicht ertragen können. Ich zitterte wie Espenlaub und die Angst brach wie ein Unwetter über mir ein, Wellen aus Panik überrollten mich.

Ich hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen, hatte mich zusammen gerollt und mich in der hintersten Ecke verkrochen. Doch die Angst überwog trotzdem. Angst vor Allem. Die Schatten schienen sich über mich zu beugen, um mich endgültig zu verschlingen, jedes kleinste Geräusch ließ mich zusammenzucken.

Ich wusste, dass das alles an einer Angststörung lag. Und ich wusste, dass ich mit der Zeit einschlafen würde, um von Albträumen heimgesucht zu werden und genauso fertig aufzuwachen, wie ich eingeschlafen war. Ich wusste auch, dass ich jemanden holen könnte, so wie es mir gesagt wurde. Aber etwas in mir weigerte sich. Dazu müsste ich aufstehen, meine Deckung aufgeben und andere Menschen um Hilfe bitten. Nein, das konnte ich einfach nicht.

Die Stunden vergingen. Ich setzte mich auf, wiegte mich hin und her, zerkratzte mir meine Arme, schlug meinen Kopf gegen die Wand und schrie ins Kissen. Ich wischte mir über mein tränennasses, geschwollenes Gesicht und legte mich wieder hin.

Ich fühlte mich wie eine Verrückte. Vielleicht würde man mich ja in eine Gummizelle stecken. Vielleicht würde ich irgendwann die Kontrolle verlieren. Vielleicht habe ich sie ja schon längst verloren.

Irgendwann hielt ich die Stille nicht mehr aus und machte mir Musik an, irgendeine Playlist, die ich irgendwann erstellt hatte.

Ich lehnte mich zurück und ließ die Musik laufen, versuchte mich ganz allein auf sie zu konzentrieren und alles andere um mich herum auszublenden.

Es half, wenigstens eins bisschen, sodass ich langsam in einen unruhigen Schlaf glitt, der zwar keineswegs erholsam war, aber wenigstens die wenigen Stunden bis zum Morgen überbrückte.



Ich starrte auf meine Beine. Ich hasste es, wie sie aussehen, wenn ich so sitze - das ekelhafte Fett, welches sich trotz radikaler Hungerphasen dort angesetzt hat. Könnte an den Fressattacken liegen, die ich danach immer hatte. Meine Disziplin - einfach dahin.

"Wie geht es dir, Leea?", fragte mich meine Psychologin, ihren Namen hab ich sofort wieder vergessen. Ich zuckte die Schultern.
"Gut", sagte ich krächzend, meine Stimme versagt. Ich wiederholte es.

Sie schaute mich prüfend an. Ihre Augen erkundeten mein Gesicht, suchten nach einer Emotion. Irgendwas, was ihr verriet, dass ich lüge, es mir eben nicht gut geht. Denn bin ich nicht eigentlich genau deswegen hier?

"Okay, dann erzähl mal ein bisschen von dir, was machst du so in deiner Freizeit?"
Wieder Schulterzucken meinerseits.
Ich überlegte, was ich antworten sollte. Was machte ich in meiner Freizeit, außer antriebslos rumliegen?
"Lesen?" Es war eher eine Frage. Früher hatte ich viel gelesen, aber inzwischen?
Sie schaute mich aufmunternd an, jedenfalls dachte ich, es soll aufmunternd sein, mich ermutigen weiter zu reden.
"Zocken?" Sagte ich langsam.
Sie notierte sich etwas. Hoffentlich werde ich nicht als "computersüchtig" abgestempelt, wie's schon einmal passiert ist.

Mir fiel nichts mehr ein, also schaue ich stumm auf meine Hände. Es waren keine schönen Hände.
Ich hatte die Angewohnheit zu knabbern und dementsprechend sehen auch meine Finger aus.
Ich ziehe meine Ärmel über sie.

"Fällt dir nichts mehr ein?" - Kopfschütteln.

"Du hast dich selbst eingewiesen. Wieso?" Sie beugt sich ein Stück nach vorne und schaut mich prüfend an.
"Ich denke- ich weiß nicht."
"Es muss doch irgendeinen Grund haben", hakt sie nach.
Ich schaue wieder nach unten.
Ich hasse Psychologen. Ich war schonmal bei einem gewesen und ich habe es gehasst, deshalb hab ich abgebrochen. Im Nachhinein nicht die klügste Entscheidung - ich hätte wechseln können - aber wann bin ich schon klug?

Ich schwieg einfach weiterhin.
Ich wollte nicht reden, nicht darüber. Über die Selbstmordgedanken, die Nächte, in denen ich verzweifelte, an dem Gedanken krank zu sein.

Krank - Das bin ich nämlich, komplett krank.

Ich will nicht davon erzählen, was in meinem Kopf vorgeht. Ich will nicht in die Geschlossene, ich will nicht, dass sie mich als "die Verrückte", "die Kranke" abstempeln, ich will nicht so gesehen werden, auch wenn das wahrscheinlich schon der Fall ist. Ich will nicht noch mehr Leute enttäuschen, wie ich's jetzt schon getan habe.

Ich will nicht ihre Blicke sehen, wenn sie fragen: "Warum ist sie denn in der Klapse?" und keine ordentliche Antwort bekommen. Kein "Sie hat ein schweres Trauma", kein "Sie hat familliäre Probleme", kein "Sie hat Angststörungen, seit etwas in ihrer Kindheit vorgefallen ist". Sondern ein "Nunja - Sie ist einfach schwach".

"Okay, du willst anscheinend nichts dazu sagen. Dann erzähl mir doch von deinem ersten richtigen Tag hier, du warst heute in der Schule?", reißt mich meine Psychologin wieder aus meinen Gedanken.

"Ja", antworte ich knapp.

Da ich, wegen meinen Suizidgedanken, keinen Ausgang hatte, durfte ich nicht auf die Schule in diesem Ort gehen, ich musste die Stationsschule besuchen.
Ich wusste, dass ich mich kindisch benahm. Mich selbst einweisen und dann sich weigern zu reden - aber ich war in meinem Denken noch nie besonders fortschrittlich.

"Hast du schon jemanden kennen gelernt?" - Ich dachte an Spencer. Er hat sich neben mich gesetzt, aber wir haben kein Wort miteinander geredet, also schüttelte ich den Kopf.

"Warum nicht, haben die anderen dich nicht gut aufgenommen?"

"Nein, so ist es nicht. Ich wollte nur mit niemanden reden.", antwortete ich, während ich an die vielen Menschen dachte, die versuchten freundlich zu mir zu sein, bis sie merkten, dass ich nicht mit ihnen reden wollte. Dann ließen sie mich in Ruhe.

"Warum denn nicht?" Meine Psychologin schien etwas erleichtert darüber, dass sie jetzt etwas hatte, worüber sie mich ausfragen konnte.

"Ich wollte halt nicht. Ich kann nicht gut mit Menschen."

Ich verschwieg meine Angst vor neuen Kontakten, das Zittern und die Übelkeit, wenn ich jemanden kennen lernen musste - und dann gleich so viele!

Ihr Stift kratzte über das Papier. Sie machte sich Notizen, schon die ganze Zeit über. Ich mochte das nicht.

Ich fühlte mich dadurch wie ein Forschungsobjekt, als wäre sie eine Wissenschaftlerin und ich wäre eine seltene außergewöhnliche Lebensform, die sie untersuchen wollte. Als würde sie Protokoll über mich führen, dabei war ich ziemlich uninteressant.

Sie blickte auf die Uhr.

"Unsere Zeit für heute ist schon um"

Ich stand auf, sie auch.

Lächelnd reichte sie mir ihre Hand und begleitete mich zur Tür.

"Bis zum nächsten Termin!", verabschiedete sie mich und ich murmelte etwas Unverständliches zurück.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und Erleichterung machte sich in mir breit, bis meine Gedanke wieder dahin wanderten, wie es mit mir weiter gehen sollte.

Klar, ich war hier erst seit gestern.

Klar läuft da nicht alles perfekt.

Und trotzdem dachte ich schon wieder ans Hinschmeißen, einfach Aufgeben.

Die  gute altbekannte Verzweiflung.

entwurf.odtWhere stories live. Discover now