The day after fruit-binge

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Es war Samstag, 08:08Uhr. Ich brauchte schon lange keinen Wecker mehr am Wochenende, ich war immer um diese Zeit wach. Spätestens. Doch an diesem Tag wünschte ich mir es wäre erst 03:00Uhr in der Nacht, geweckt durch die Wirkung und Bauchkrämpfe der Abführmittel. Doch so war es nicht, die Sonne schien durch mein Dachfenster, ich war wach und mein Bauch war stumm. Ich brauchte einige Sekunden um es zu realisieren bis mir die Tränen in die Augen schossen. Wie konnte es sein, dass mein Magen-Darm-Trakt trotz Überdosis regunglos blieb? Es durfte nicht sein. Ich griff benommen nach meiner Wasserflasche, die neben meinem Bett stand und spühlte erneut 2 Tabletten hinunter. So machte ich es immer an Tagen, an denen ich mich nicht wiegen wollte, denn sobald ich etwas in mir hatte war das Gewicht so oder so verfälscht.
Ich blieb einige Minuten schweigend und verzweifelt liegen. Es war eindeutig zu viel gestern, viel zu viel. Doch dann stand ich auf, trottete schwankend ins Badezimmer, ignorierte Spiegel und Waage, ließ meine Schlafkleidung achtlos zu Boden fallen und betrat die Dusche. Als mich das Wasser berührte konnte ich nicht mehr Inne halten, ich begann laut zu schluchzen und ließ mich auf den Duschboden sinken. Tränen vermischte sich mit dem Wasser und ich hatte das Gefühl daran zu ertrinken, leider tat ich es nicht. Natürlich tat ich es nicht, ich tat es nie, egal wie sehr ich es mir wünschte. Ich weiß nicht, wie lange ich regungslos da saß meine Tränen laufen und mich von dem Wasser der Dusche erdrücken ließ.
Irgendwann jedoch packte mich der Drang einer zu bekannten Stimme: "Steh' auf, du fettes Miststück. Meinst du die Abführmittel wirken schneller, wenn du hier heulend rumsitzt? Meinst du das Fett verschwindet, wenn du weiterhin so faul bist? Steh' auf verdammt und beweg' dich!" Wie in Trance stand ich auf, kerzengerade als wäre ich beim Militär. "Hör' auf zu heulen du Seekuh und leg' los". Ich wischte mir die Tränen weg, versteinerte mein Gesicht und begann meine Haare und leider auch meinen Körper einzuschäumen und zu waschen. So schnell es mir möglich war. Denn ich schämte mich schrecklich und die Stimme in mir machte es keineswegs leichter. "Spürst du das? Fass' es ruhig an, dein ekliges Fett, vielleicht wirst du dir dann mal darüber klar, was du tust!!! Du frisst, als hättest du dazu irgendein Recht. Fass' es nur an! Spürst dus? Spürst du endlich wie ekelhaft du bist?" Ich spürte es. Ich hätte es auch ohne diese erniedrigenden Sätze gespürt. Fett. Fett. Fett.
Anschließend begann die Hektik, fürs Schminken blieb mir weder Zeit noch hatte ich es verdient. Ich sollte ruhig hässlich sein, Strafe muss sein. Anziehen, Haare grob trocknen, zusammenbinden und los.
Um Punkt 09:30Uhr stand ich vor der Haustür. "Ab in den Wald mit dir, dicke Kuh. Roll' los oder willst du so FETT bleiben?" Ich stampfte los, während ich mir meine Ohrhörer aus der Jackentasche suchte, die Musik laut drehte und mir eine Zigarette anzündete. Ich musste mich beruhigen, denn ich war unglaublich aufgebracht. Immerhin war schönes Wetter, die Sonne schien und ließ den Morgentau glitzern. Alle Pflanzen schimmerten weiß, noch eingefroren von der eisigen Nacht. Die gesamte Waldrunde zog vollkommen gedankenlos und leer an mir vorbei. Sie war zu kurz. Nur 4,5km. Zu wenig zu wenig zu wenig. "Wag' es ja nicht dich jetzt hinzusetzen!" Natürlich setzte ich mich NICHT hin, was um Gottes Willen dachte sie denn? Hält sie mich für so dumm?
Ich begab mich in die Küche. Gefährliche Zone. Doch hier wartete Arbeit, meine Eltern schienen die vorigen Tage wenig wert darauf gelegt oder sich an meine Putzerei gewöhnt zu haben. Ich räumte die Geschirrspülmaschine aus und wieder ein, säuberte die Arbeitsfläche, brachte den Biomüll hinunter in die Tonne und sammelte jeglichen Plastikmüll aus der Wohnung zusammen. Unglaublich.
Im Anschluss lief ich hinauf in mein Zimmer, sammelte Kleidung zusammen, rannte 3 Stockwerke hinab in den Keller und verfrachtete sie in die Waschmaschine. So stellt man sich einen Samstag vor, mit Hausarbeit.
11:45Uhr, ich sollte etwas trinken. Deshalb ging ich hinab in die Wohnung meiner Eltern und versuchte 2 Gläser Wasser hinunter zu würgen. Das Völlegefühl breitete sich aus und ich kämpfte erneut mit den Tränen. Egal. Trinken ist gut, die Abführmittel wirken besser, es steigert meinen Kalorienverbrauch und meine Abnahme. Ich MUSS trinken, auch wenn ich meist viel zu viel trank. Aber es hilft immer.
Ich streifte mir meine Jacke wieder an und lief für 2 Zigaretten die Straße auf und ab. Ich fühlte mich leer und selbst die Sonne heiterte mich nicht mehr auf. Irgendwie fühlte ich nichts und meine Motivation verschwand. Niemals würde ich es schaffen, niemals würde ich dünn genug sein, niemals würde ich mich ausreichend bewegen. Ich war ein Versager. Versager. Versager. Insgesamt stand ich bei 6km als ich wieder Heim kam. Das war so lächerlich.
Wieder daheim kochte ich mir einen grünen Tee und schnappte mir mein Buch, mit welchem ich Runden in der Wohnung lief. Hin und her, auf und ab und immer wieder im Kreis. Die Bewegung tat mir gut, mein Bauch begann zu arbeiten und die Abführmittel langsam zu wirken. Langsam, ganz langsam. Ich las wieder mehr momentan, die Sucht nach Essstörungsbüchern war neu entfacht. Ich verschlang sie in wenigen Tagen, beim Laufen natürlich, doch das was ich gerade las gefiel mir nicht, ich war gelangweilt, aber immer noch besser als ohne jegliche Ablenkung durch die Wohnung zu streifen.
Um 14:00Uhr stoppte die Geschirrspühlmaschine, das monotone Sausen war verstummt. Ich klappte mein Buch zusammen, Gott sei Dank, denn ich war langsam genervt davon. Wie konnte ein einziges Buch meine Liebe zum Lesen so sehr mindern? Bevor ich mich regte schaute ich auf meinen Schrittzähler: 8km. In der Wohnung beim Lesen lief ich langsamer, verständlich, aber alles besser als tatenlos zu sitzen. Um ehrlich zu sein, wusste ich nichtmal mehr wie das funktioniert. Wie soll man einfach so dasitzen? Wie soll man im Sitzen oder gar im Liegen lesen? Ich könnte mich gar nicht konzentrieren, ich würde durchdrehen. Die Stimme in meinem Kopf war nur zu ertragen, wenn ich in Bewegung war und nur dann konnte ich mich auf irgendetwas anderes konzentrieren, ohne dass sie mir ständig dazwischen babbeln würde. Ich ging in die Küche und versuchte das noch kochendheiße Geschirr in die Schränke zu räumen. Dabei hatte ich das unaufhörliche Gefühl es würde mir meine gesamtem Hände wegbrennen. "Du hast den Schmerz verdient, Süße. Nach Gestern hast du noch so viel mehr Schmerzen verdient." und da war sie, die andere Stimme in mir, Alaska, meine treue Begleiterin, die mir den Schmerz zu Freude zu machen versuchte. Ich versuchte die Töpfe und Pfannen so lange wie möglich in den Händen zu halten, die Bretter waren kühl, zu angenehm, dann nahm ich das Besteck und es brutzelte wunderschön in meinen Händen. Sie leuchteten rot als ich mit meiner Tortur fertig war. Ich war zufrieden, naja eher Alaska kicherte fröhlich in meinem Kopf umher.
Draußen schien immernoch die Sonne, als wäre es Frühling, doch dafür war es viel zu kalt. Zunehmend bekam ich das Gefühl die Sonne würde mich auslachen. Ich stellte mich ans Fenster, so dicht wie möglich und versuchte mit meinem kalten, versteinerten Blick die Sonne zum Duell aufzufordern. Ihr Strahlen gegen meine Kälte. Doch bevor es mir gelingen konnte meldetete sich mein Bauch erneut. Die Abführmittel zeigten Wirkung, ich wäre allerdings dankbarer gewesen, wenn sie dies im vorgegebenem Zeitraum tun würden und vor Allem innerhalb von 1-2 Stunden und mir nicht meinen gesamten Tagesablauf erschweren. müssten.
Als ich mich dann notdürftig entleert hatte, so viel es eben ging, denn mein Bauch ähnelte nach wie vor dem einer hochschwangeren Frau, ging ich erneut raus. Raus, wo mich die gehässige Sonne anstrahlte. Ich hatte nur eine knappe halbe Stunde Zeit, in welcher ich mich schnell zum kleinen Park und zurück nach Hause begab. Meine schwarze Thermoleggins schien die Wärme der Sonne nur so anzuziehen, doch mein restlicher Körper blieb kalt. Arme und Rücken wurden von der auftretenden Gänsehaut verziert, meine Hände musterten sich wie ein Regenbogen vor Kälte. Verlogene Sonne. Meine Gedanken fuhren Horrorkarusell und ich versuchte krampfhaft sie zu ordnen, was mir eindeutig nicht gelang. Vollkommen aufgelöst kam ich zuhause an, zitterte leicht vor Aufregung und war vollkommen durcheinander. Ich ging direkt ins Badezimmer um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen und endlich wieder klar im Kopf zu werden, doch es funktioniert einfach nicht. Schneiden. Abnehmen. Blut. Hungern. Schneiden. Abnehmen. Blut. Hungern. Meine Gedanken waren fixiert und dochgleich so durcheinander. 10km
Aber mir blieb keine Zeit mich ihnen hinzugeben, ich musste kochen. Hähnchenschnitzel mit Zitronen-Oregano-Öl und Smashed Potatoes. Immerhin meine Familie sollte etwas anständiges zu Essen bekommen. Beim Braten des Fleisches bekam ich kurzzeitig Panik, dass das spritzende Fett, was wiederholt meine Hände traf, in mir aufgesaugt werden könnten, doch ich beruhigte mich damit, dass es immerhin immer wieder kurz schmerzte. Beim Kochen konnte ich mich allerdings nicht wirklich bewegen, zwar stand ich ganze Zeit, aber das war mir eigentlich zu wenig. Ich konnte es kaum erwarten bis die gekochten Kartoffeln in den Ofen mussten und ich ein paar Minuten Zeit hatte um mit dem Hund rauszugehen. Letzendlich waren es nur 20 Minuten, die mich nicht sonderlich befriedigten. Aber besser als nichts.
Dann gab es essen. Für meine Familie versteht sich, ich trank einen grünen Tee währenddessen. Ich versuchte großen Wert darauf zu legen, mich dennoch dazu zu setzen, damit etwas Familienleben bestehen blieb. Mein Bruder hatte allerdings schon einen Freund zu besuch, weshalb er nicht dabei war, aber war ja letzenlich auch nicht so wichtig.
"11km du faules Stück und das um 17:00Uhr. Schämst du dich eigentlich nicht? Du stehst dir lieber die Beine in den Bauch anstatt das Fett abzutrainieren. Du bist eine Versagerin." Nein. Nein. Nein. Schnell schnappte ich mir meinen Hund und die Autoschlüssel. Ich fuhr mit ihr hoch auf den Berg in den Wald um noch ein paar Kilometer hinter mich zu bringen. Sie (mein Hund) war mein einziger Sonnenschein und konnte mir hin und wieder ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Doch an diesem Tag war meine Stimmung ein einziges Karussel, kurzzeitig heiterte mich meine Hundeprinzessin auf und genauso schnell stürzte meine Laune wieder in den Abgrund. Auf und ab. Kaum auszuhalten. Aber immerhin ein paar schöne Momente. Mit 15km kam ich wieder Heim.
Zuhause begann endlich mein Magen zu knurren. Hat ja auch nur 26 Stunden fasten gedauert. Aber er knurrte und ich schwebte auf Wolke 7. "So ist's richtig. Er applaudiert dir und die Fettzellen schreien. Spürst du wie du dünner wirst, Liebes? Mach' weiter, nicht aufgeben. Wir schaffen das!".
Doch die Arbeit wartete nicht, sie wartete nie. Mein Zimmer wartete, tägliche Routine: Aufräumen, Saugen, Staub wischen. Mindestens. Jeden Tag nahm es viel zu viel Zeit in Anspruch, doch ich musste es sauber halten, anders hielt ich es nicht aus. Ich war froh diese Tortur mittlerweile nur einmal am Tag erledigen zu müssen, da es auch schon schlimmere Zeiten gab.
Plötzlich bekam ich Bauchschmerzen, einen richtig unerträglichen stechenden Schmerz in der unteren Bauchregion. Ich hatte keine Ahnung ob es an den Abführmitteln lag oder an meinen aufgeblähten Bauch vom Essen gestern, aber die Schmerzen waren kaum mehr zu ertragen. Deshalb kochte ich mir schnell einen grünen Tee und begab mich im Anschluss nochmal hinaus für meine Abendrunde mit meinem Hund. Ich hoffte, die Bewegung löste den Schmerz doch so war es nicht. Natürlich nicht, nie war etwas so wie ich es erhoffte. Immer scheiterten meine Pläne und Erwartungen. Jedes verdammte Mal. Als ich um 21:00Uhr in meinem Zimmer stand fehlten mir noch 1,5km zu meinem Tagesziel, zu den 20km. Ich wollte lesen und dabei laufen, so wie immer, doch die Bauchschmerzen drückten mich immer wieder in die Knie, so dass ich am Boden saß und mit meinen Händen in meinen Bauch drückte. "Steh' auf, Miststück. Steh' auf und lauf verdammt nochmal." Immer wieder stand ich auf, bis ich den Schmerz nicht mehr aushilft, verharrte 2 Minuten am Boden und stand wieder auf. Ich musste es schaffen, 20km mindestens. Bis 22Uhr konnte ich in meinem Zimmer laufen, anschließend würde ich rausgehen müssen. Meine Eltern ertrugen mein Laufen nicht, es zerrte an ihren Nerven und machte sie nervös, deshalb tat ich es in meinem Zimmer, doch ab 22:00Uhr gehen sie ins Bett und ab dann ist es mir selbst in meinem Reich untersagt. Ich musste und wollte es an diesem Tag drinnen schaffen, mir war schrecklich kalt und die Gänsehaut selbst im Haus kaum zu ertragen. Um 21:40Uhr kam endlich die erwartete und schmerzende Wirkung der Abführmittel. Es ist wirklich faszinierend in welchen Abständen sie bei mir eintrafen und dass sie es fast nie zur vorgegebenen Zeit tat. Der Schmerz verschwand schleichend und ich war unendlich froh meine letzten Meter zügig ablaufen zu können.
Fast wie abgesprochen hatte ich mein Buch um 22:00Uhr durchgelesen und auf die Minute genau hatte ich die 20km erreicht. Immerhin. Bevor meine Eltern zu Bett gehen konnten schlich ich mich noch kurz in ihre Wohnung um mir ein Körnerkissen, gegen die Kälte und das letzte abklingende Bauchzwicken, zu erwärmen. In meinem Zimmer begann ich meine Fingernägel neu herzurichten. Ich will ja nicht fett und ungepflegt sein. Das ganze verschwendete viel zu viel Zeit. Doch um 23:30Uhr konnte ich nochmal für eine letzte Abendzigarette das Haus verlassen und kurz frische Luft schnappen. Meine Augen brannten und ich war müde, doch schlafen würde ich bestimmt nicht eh können. Schon während des Rauchens schweiften meine Gedanken erneut ab. Werde ich es schaffen? Werde ich meine Zielgewichte zu den geplanten Daten erreichen können? Habe ich die Pläne streng genug berechnet und kalkuliert? Wie viel werde ich morgen früh wiegen? Oder sollte ich mich doch schon jetzt wiegen? Sollte ich morgen wirklich fasten oder eine Monodiät machen? Ich fühlte mich hundeelend und war durcheinander. Die Stimmen in meinem Kopf schrien ununterbrochen und es machte mich wahrlich verrückt. Schneiden. Hungern. Schneiden. Hungern.
Trotzdem machte ich mich nun bereit fürs Bett. Umziehen, Zähne putzen, Gesicht waschen, Haare kämmen. Ich hatte das Gefühl ich würde im Stehen einschlafen und meine Augen jeden Augeblick zuklappen, sie brannten höllisch vor Müdigkeit.
Mit 20,21km lag ich letzendlich in meinem Bett, spannte abwechselnd meine Beine und meinen Hintern an, tippte nervös mit meinen Fingern auf die Madratze, wackelte mit meinem Fuß hin und her und lauschte stumm dem Fernseher, der unruhig vor sich hin flackerte. Und ich dachte dachte dachte dachte und dachte endlos.
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27.02.2016

invisible - much more than anorexiaOnde histórias criam vida. Descubra agora