feeling of life/death

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In dieser Nacht konnte ich tatsächlich schlafen, durchschlafen. Es dauerte einige Zeit einzuschlafen, allerdings konnte ich den Duft von Chiara einatmen, ihre Wärme und Nähe spüren und ihre gleichmäßige Atmung beruhigte mich. Ich muss nicht alleine. Mir kann nichts passieren. Alaska wird diese Nacht keine Chance haben. Ich schlief ein und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gut geschlafen hatte, so ruhig war, mich so erholen konnte. Wahrscheinlich war es Jahre her. Ruhe. Frieden.
Als ich am Morgen erwachte drehte sie sich gerade zu mir um und da ich sie die ganze Nacht umarmt hatte, wechselte auch ich meine Position. Unerwartet schloss sie nun ihre Arme um mich, ich konnte ihre Atmung an meinem Nacken spüren. Wohlfühlend schnurrte ich fast wie eine Katze. Wann hatte ich mich das letzte Mal so wohl gefühlt? So sicher gefühlt? Wann hatte ich das letzte Mal körperlichen Kontak so zugelassen? Wann hatte ich mich zuletzt so sicher gefühlt? Wann gab es zuletzt einen Augenblick wie diesen in meinem Leben? Ich wusste es nicht, ich konnte mich absolut nicht mehr erinnern, es war viel zu lange her, deshalb versuchte ich es zu genießen so gut ich konnte. Versuchte jede Sekunde, jedes Detail in mir aufzusaugen und mir ins Gedächtnis zu brennen.
Doch dann zerstörte wie immer mein verdammter verhasster Körper die beinah perfekte Situation. Es schmerzte schrecklich an meinem Hüftknochen weiter seitlich in dieser Position zu liegen. Zwar versuchte ich es noch einige Minuten auszuhalten, doch der Schmerz wurde von Augenblick zu Augenblick immer stärker, als würde die Madratze, die an meinen Knochen drückte, sekündlich härter werden. Als ich es nicht mehr aushielt drehte ich mich auf den Rücken und sie ließ mich los. Leere. "Ich traue mich kaum mehr die richtig in den Arm zu nehmen. Du bist so zerbrechlich geworden." Und mit diesem Satz hatte sie auch Ana aus dem Schlaf gerissen. Zerbrechlich. Mehr als ein Schulterzucken und ein müdes Lächeln hatte ich als Antwort nicht zu bieten. Einige Zeit schaute ich an die weiße Decke, ruhig, meiner und ihrer Atmung lauschend. "Steh' auf Moppelchen, du musst auf die Waage. Nur weil dein Magen sich jetzt leer anfühlt heißt das nicht, dass die Waage weniger zeigt und beides wäre kein Grund hier lange faul rumzuliegen." Guten Morgen Ana, musst du alles zerstören? Ich stand auf, da ich keine Lust hatte in meinem Kopf mit Ana rumzudiskutieren, da es ja letzendlich eh zwecklos war. Daher ging ich ins Badezimmer, stellte mich auf die Waage. -1,4kg. Die Monodiät hatte also funktioniert und auch die Abführmittel ihre Arbeit getan. Na immerhin. Ich putzte mir die Zähne, wusch Gesicht und Hände, desinfizierte anschließend noch meine Hände und zog mir frische Kleidung an. Der Dusche umgang ich, auch wenn mich eine Seite nur so in sie ziehen wollte, doch ich wollte die Nähe von Chiara noch nicht abwaschen.
Während diese noch im Bett lag, ging ich hinab in die Wohnung meiner Eltern und bereitete für sie schonmal Frühstück vor, kochte mir selbst wieder einen Cappuccino und einen Tee. Monodiät Tag Nummer zwei. Es dauerte nicht lange und auch Chiara kam hinab und setzte sich auf's Sofa, gefolgt von meiner Mutter, die aus dem Schlafzimmer trottete. Als ich sie erblickte begann ich auch ihr Frühstück zuzubereiten.
Stundenlang saßen wir zusammen auf dem Sofa, redeten, schauten Fernsehen. Doch irgendwann ging ich hinauf in mein Zimmer, begann mich leicht zu schminken und ging anschließend in die Stadt um mir neue Zigaretten zu besorgen und kurz in der Drogerie zu stöbern. Die Sonne schien, alles wirkte nach Frühling und ich war seltsam positiv gestimmt. 3,5km
Daheim angekommen begann nun Chiara sich herzurichten und ich nutzte die Zeit zum Lesen. Der Vormittag verging zu schnell und somit brachte ich sie um 14:45Uhr zum Bus, mit welchem sie zu ihrem Freund fuhr. "Nun bist du alleine, Süße. Niemand da, der dich retten oder beschützen kann." 5km
Meine Laune sank, doch irgendwie wollte ich es nicht recht zulassen. Deshalb packte ich meine Tasche: Cappuccino, Wasser, Tagebuch, Stift, Traubenzucker, Desinfiktionsmittel, mobiler Akku. Ich schaltete die Musik laut, ließ sie durchs Kabel der Ohrhörer direkt in mein Gehirn laufen und ging los. Ich wollte meine Lieblingsplätze ablaufen, nach dem Gefühl des Lebens suchen, die Natur genießen und Positivität finden. Sinnlos.
Ich lief zum Wasser, direkt am Fluss entlang, über mehrere Brücken und setzte mich irgendwann direkt ans Ufer. Jede Welle schien beinahe meine Schuhe zu berühren. Ich saß dort in der Sonne, schaute auf den treibenden Fluss, beobachtete die Enten und wie die Sonne sich im Wasser spiegelte. Dabei trank ich meinen Cappuccino und versuchte alles positive aus meiner Umgebung in mir aufzusaugen. Zwecklos. Umso mehr ich versuchte die schönen Einflüsse auf mich einwirken zu lassen, desto dunkler und negativer wurde ich. Versager.
Ich ging weiter, weg vom Wasser, den Waldweg hinauf auf den Berg. Der Weg war sehr steil und hatte immer wieder viel zu hohe Treppen. Viel zu schnell begann mein Herz zu rasen, es pumpte das Blut voller Adrenalin durch meine Venen und schlug mit derartiger Wucht gegen meine Rippen, dass ich das Gefühl hatte sie würden jeden Moment brechen. Doch sie taten es nicht. Ein leichter Schwindel überkam mich und meine Oberschenkelmuskeln brannten wie ein gesamtes Lagerfeuer. Ohne darüber nachzudenken lief ich weiter, stieg den Berg hinauf, bis hin zur Burg. Ich setzte mich auf die Steinmauer und blickte hinab. Blickte hinab auf die Stadt, auf die fließenden Flüsse, die überfüllten Straßen, in die Wälder und schließlich in den wolkenlosen Himmel. Der Wind umwehte mich und ich fror, dennoch ignorierte ich diese Tatsache und suchte mein Tagebuch aus meiner Tasche. Drei Texte schrieb ich hinein, stellte mich auf die Mauer und war eingefangen in tiefen, dunklen Gedanken. Wäre das Burgcafé offen gewesen hätte ich mir eine Eintrittskarte gekauft und wäre die Burg hinauf gegangen, hätte von ganz oben hinabgeblickt. Doch hätte ich mich dann noch halten können? Ich würde so gerne versuchen zu fliegen, zu fallen, frei zu sein. Schließlich kam ich selbst zu dem Entschluss, dass ich zu labil war um dort ganz oben zu stehen, allerdings hatte ich an diesem Tag eh keine Möglichkeit dort hinauf zu kommen.
Deshalb packte ich meine Sachen wieder ein, zündete mir eine Zigarette an und ging den Waldweg wieder hinab. Diese Aufgabe war weitaus schwerer als erwartet, denn es war wirklich steil, meine Beinmuskeln schon überstrapaziert vom Hochklettern. Bei jeder Treppenstufe, bei jeden Schritt zitterten meine Beine so extrem, dass ich dachte sie würden jeden Moment nachgeben. Zu gerne hätte ich nach dem Geländer gegriffen, doch ich hatte keine Hilfe verdient, da musste ich irgendwie alleine durch. Als ich unten an der Straße stand war ich so unendlich froh wieder festen, geraden Boden unter den Füßen hatte, blickte kurz zurück hoch zur Burg und verspürte leichte Sehnsucht. Ich war viel zu selten dort oben.
Ich fühlte mich irgendwie einsam, das Gefühl des Lebens war ich kein Schritt näher gekommen, ganz im Gegenteil, ich bin 10 Schritte zurück gelaufen, gestolpert und hingefallen. Versager.
Ich wollte noch nicht nach Hause, deshalb ging ich nicht den direkten Weg, sondern lief erneut an den Flüssen entlang. Jede Steinmauer musste ich hochklettern und auf ihr balancieren, egal ob es dahinter tief oder weniger tief hinab ging, hauptsache ich hatte das Gefühl irgendwas zu riskieren, am Abgrund zu balancieren. Bei jeder Gelegenheit ging ich so nah ans Wasser wie mir nur möglich war. Ob ich wollte oder nicht, ich war komplett eingefroren, mir tat jeder einzelne Knochen weh, ich musste auf Toilette und war erschöpft, deshalb wählte ich den Weg heim. 14km
Müde und unterkühlt kam ich an, kochte mir direkt einen Tee und ließ mich faul auf's Sofa fallen. "Wie kannst du faules Stück dich jetzt hinsetzen? Geht's dir noch ganz gut? Steh' auf verdammt!" Halt die Klappe, meine Beine halten mich keine einzige Sekunde mehr. Also schweig nur einmal für 10 Minuten, Ana. Bitte, ich flehe dich an, ich kann jetzt nicht mehr. Ich blieb sitzen, totmüde und gleichzeitig hellwach.
Als meine Eltern nach Hause kamen besprachen wir den Einkaufszettel und ich fuhr los. Ich MUSSTE mich schließlich tatsächlich noch bewegen. Die Einkäufe waren schwerer als gedacht und sie ins Haus zu tragen raubte mir ziemlich viel Kraft, doch ich konnte nie um Hilfe bitten.
Zurück zuhause begann ich mein Sportprogramm: 100 Hampelmänner, 150 Crunches, 50x seitliches Beinheben (pro Bein) und 20x normales Beinheben. Dann ging ich die kleine Abendrunde mit Sam und im Anschluss räumte ich mein Zimmer auf, begann Wäsche zu waschen, putzte mein Regal und meine Kommode. So müde. So schwach. So erschöpft. Doch all das reichte nicht, das wusste ich und dennoch erinnerte mich Ana sekündlich daran. Deshalb ging ich erneut raus, es war dunkel, einsam, verlassen und ich verlief in eine endlose Melancholie, rauchte meine Zigaretten und lief durch die Straßen wie ein ausgesetztes Kind. 18,5km
Ich war so erschöpft, aber ich musste noch unter die Dusche und zu aller erst auf die Waage. 300g mehr als am Morgen. "Du dickes Ding schaffst es wirklich so gut wie nie Abends weniger zu wiegen als morgens oder immerhin genau so viel. Nein du musst immer mehr wiegen. Du bist vollkommen unnütz." Traurig ging ich unter die Dusche. War ich wirklich traurig? Keine Ahnung, aber in irgendeiner Art niedergeschlagen. Danach reichte meine Kraft nur noch aus um mir die Zähne zu putzen, dann fiel ich ins Bett wie ein dicker, toter Fisch. Chiaras Bettwäsche lag noch dort und ich war mehr als dankbar drum, denn zum Einen hatte ich so zwei dicke Decken und eine Wolldecke um mich zuzudecken, was ich mindestens brauchte, denn ich fühlte mich wie ein Eisklotz, zum Anderen konnte ich so ihren Duft einatmen und hatte die Hoffnung etwas Geborgenheit und Sicherheit zu finden. Doch es gelang mir nicht, ich fühlte mich einsam, war traurig, kämpfte mit starkem Selbsthass, fror und hatte ein unangenehmes Brennen und Ziehen im Magen. Ich will doch einfach nur schlafen... 18,56km
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11. März 2016

invisible - much more than anorexiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt