"You lost weight!"

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In der Nacht schaute ich noch bis etwa 01:00Uhr einen Horrofilm, der im Fernsehen lief, aber danach konnte ich dennoch nicht schlafen. Da ich zum Einen Schmerzen vor Hunger hatte und nur an Essen denken konnte und zum Anderen vom Film getriggert war und Alaska mich pausenlos versuchte zu zwingen mich zu schneiden. Es quälte mich und hielt mich noch Ewigkeiten wach, bis ich anscheind irgendwann doch in einen unruhigen Halbschlaf fiel.
Unerwartet spät wachte ich am Morgen auf, denn es war schon 07:38Uhr. Leicht schockiert und erschrocken über diese Uhrzeit saß ich direkt kerzengerade in meinem Bett und stand ohne kurz zu warten auf. Schwindel. Ohne wirklich etwas zu sehen stürmte ich dennoch stolpernt ins Badezimmer, riss mir beinahe meine Kleidung vom Leib und stellte mich auf die Waage. -0,6kg. "Zu wenig zu wenig zu wenig, du elendiger Versager. Du Nichtsnutz! Du hättest dich wirklich mehr bewegen sollen! Heute wirst du FASTEN, ganz nach Plan! Kontrollier' dich gefälligst."
600g war eigentlich keinesfalls schlecht, dennoch war ich an diesem Morgen unersättlich unzufrieden und hasste mich unbeschreiblich sehr. Dieser hässliche, fette Körper widerte mich an! Schnell wusch ich mich mit einem Waschlappen, putzte meine Zähne, desinfizierte meine rissigen, trockenen Hände und zog mich an. "Gott sei Dank trägst DU einen weiten Pullover, so muss man immerhin deinen schwabbeligen Bauch nicht ertragen. Sorg' endlich dafür, dass er flach oder noch besser eingefallen wird!"
Ich musste mich beeilen, deshalb zog ich mir schnell noch Jacke und Schuhe an und verschwand aus der Haustür. Mein Weg ging direkt in die Stadt, denn ich musste den Ladenschlüssel zur Arbeit bringen, damit meine Chefin aufschließen und den Laden öffnen konnte. Sie begrüßte mich freunlich und war froh darüber, dass ich ihr den Schlüssel brachte und sie ihn am Morgen nicht hatte bei mir abholen müssen. Aber ich wäre ja ohnehin unterwegs gewesen, deshalb tat ich ihr diesen Gefallen all zu gern, denn somit hatte ich einen Grund mehr pünktlich aufzustehen und mich direkt am Morgen auch zu bewegen. 3km
Daheim kochte ich mir einen schwarzen Tee (2 Kalorien) und schrieb einen Einkaufszettel. Nachdem ich meinen Tee endlich ausgetrunken hatte fuhr ich auch direkt zum Supermarkt, um die Liste abzuarbeiten. Ich liebte es einzukaufen und vor allem meiner Familie leckere Lebensmittel mitzubringen, die ich nicht essen durfte/konnte. Immerhin sie sollten es schön haben und sich darüber freuen.
Auf dem Rückweg fuhr ich noch schnell Chiara von ihrem Freund abholen. Dreieinhalb Tage war sie weg und ich freute mich unglaublich sie wieder zu sehen. Die Freude verstärkte sich als wir zuhause ankamen und sie mich begutachtete. "Du hast abgenommen." Lächeln? Nein. Besser nicht. "Was? Wirklich?" Ein leichtes Zucken an den Mundwinkeln konnte ich nicht verstecken. "Jaa, extrem. Du sahst letzte Woche etwas dicker aus, du sagtest ja du hättest zugenommen, ..." Schmerz. Verzweiflung. "... aber so richtig fällt das erst jetzt auf, wo du wieder so viel abgenommen hast. Du bist wieder so dünn wie vorher. ..." Ok, durchatmen. Gott sei Dank. ICH HABE SICHTLICH ABGENOMMEN! "Wie hast du das denn bitte gemacht? Ich mein ich war nicht mal vier Tage weg und da so eine Veränderung?!" Sojamilch-Monodiät sei DANK. "Naja, es waren nur knapp zwei einhalb Kilo. Es fehlen noch einige um mein voriges Gewicht zu haben." Damit meinte ich mein Gewicht vor den vielen Fressattacken, mein Gewicht vom 20.01.2016. "Nein! Du siehst nach den paar Tagen schon wieder genau so dünn. Das sind doch niemals nur zwei einhalb Kilo!!!" Ich schwieg einfach und war froh, dass es ihr auffiel.
Chiara war wahrlich die einzige Person, die IMMER offen und ehrlich zu mir war, was man bezüglich meines Körpers bei niemandem sonst behaupten konnte, sie sagte mir direkt ob ich ab- oder zugenommen hatte, war ehrlich, wenn ich mich verglich und sie fragte, ob ich dünner oder dicker als jene Person war. Viele sagten mir immer "Nein, du bist dünner. Nein, du hast gar nicht zugenommen. Nein. Nein. Nein.". Ich denke viele hatten Angst mich zu verletzen oder frisches Holz in das Feuer der Essstörung zu schmeißen, wenn sie ehrlich zu mir waren, mir sagten, dass ich zugenommen hatte oder jemand dünner war. Ich kann es verstehen, wirklich, denn natürlich lässt es mich nicht kalt, wenn ich so etwas höre, dennoch konnte ich mit der Wahrheit mehr anfangen und war so dankbar, dass ich mir bei ihr darüber sicher sein konnte.
In meinem Kopf sang Ana vor sich hin, zusammen mit meinen eigenen Gedanken. "Abgenommen. Abgenommen. Abgenommen." Abgenommen. Abgenommen. Abgenommen. Eine Gewichtsreduktion war für mich so viel mehr wert, wenn man diese auch sah, sonst war sie ja letzendlich sinnlos. Ich hasste Aufmerksamkeit und das würde sich mit Sicherheit niemals ändern, aber zu hören, dass ich dünn/zu dünn/mager/knochig/kindlich sei oder abgenommen hatte, war noch die beste Art an Aufmerksamkeit, die ich kriegen konnte und meinem essgestörten Kopf konnte man damit hin und wieder ein stolzes Grinsen abzwingen. (Sofern ich mir sicher war, dass diese Person es ernst meinte). Im Nachhinein hasste ich mich dafür, weil ich erstens immer wusste, dass es eigentlich nichts Gutes war und mich für das Glücksgefühl verabscheute und zweitens, weil ich grundsätzlich direkt an meinem Körper hinab blickte und exakt das Gegenteil der Worte zu sehen bekam. Fett.
Auch dieser Punkt blieb zu diesem Zeitpunkt nicht aus, womit all die Euphorie verflogen war. "Es reicht nicht. Du bist FETT!"
Und genau aus diesem Grund zog ich erneut meine Jacke an und ging für 20 Minuten in die eisige Kälte. Zwar schien die Sonne, es duftete wunderbar nach Frühling und die Vögel zwitscherten fröhlich, aber dennoch war es verdammt kalt. 5Grad fühlten sich für mich locker an wie -10Grad, doch das musste ich ertragen. 7km
Mehr Zeit hatte ich nicht, denn ich "musste" mich ums Essen kümmern. Zwar war es an diesem Tag nicht schwer, da meine Familie sich eine Mahlzeit wünschte, wofür ich lediglich den Backofen betätigen musste, dennoch musste ich ja auch darauf achten. Meine Mum war zu der Zeit bei der Therapie und ich wollte, dass das Mittagessen fertig waf, wenn sie wieder Heim kam. Ich selbst kochte mir noch einen Tee (2 Kalorien), welchen ich dann am Essenstisch trinken konnte, währenddessen sie aßen.
Als sie aufgegessen hatten ging ich in mein Zimmer, um mich etwas herzurichten und zu schminken, und um ein Packet zu packen.
"Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett Fett"
Unaufhörlich hallte es in meinem Kopf, so dass ich mich kaum konzentrieren konnte.
Um 14:45Uhr fuhren Mama und ich Chiara in die Stadt zur Arbeit, da wir ohnehin dorthin wollten. Ich wollte Mama das besagte Kinderkleid (in Größe 146) zeigen, denn da es nicht meine "Marke", war ich selbst zu geizig dafür, da ich ohnehin wusste, dass ich es nur haben wollte wegen der Größe und nicht weil ich es sooo schön fand oder so oft tragen würde. Sie überzeugen war leichter als erwartet und auch sie fand zwei Oberteile, was mich sogar noch mehr freute. Als ich einmal im Laden stand, wollte ich noch ein anderes Kleid anprobieren, bei diesem hing Größe 146 allerdings an mir runter wie ein nasser Sack, der taillierte Bereich war keinesfalls tailliert! Nur um mich selbst zu prüfen und zu triggern suchte ich eine Nummer kleiner, es gab nur eine Doppelgröße 134/140. Ana lachte mich aus und selbst ich war mir sicher NIEMALS hinein zu passen. Zu fett. Doch ich passte hinein, es saß perfekt. Eigentlich. Denn es war durch die kleine Größe VIEL zu kurz! Vor Allem weil es vorne noch kürzer geschnitten war als hinten, konnte man schon meine Narben an den Oberschenkeln durchschimmern sehen und damit blieb das Kleid im Laden.
Wir fuhren zurück und ich hasste mich dafür, dass ich den Weg zurück nicht lief. Allerdings schwammen knappe zwei Liter Wasser und Tee in mir herum, die sich mit starkem Druck den Weg nach draußen Bahnen wollte, deshalb "musste" ich fahren. Versager. "Du bist doch nur zu FAUL!!!" Nein, zum Mindest nicht direkt. Ich hatte nur schon als Kind meine Blase "zerstört", denn im mich selbst zu quälen hatte ich teils tagelang ohne schlaf versucht so lange wie möglich nicht auf die Toilette zu gehen. Mittlerweile schmerzte meine Blase nach 25 Minuten aufhalten so sehr, dass ich mich kaum mehr bewegen konnte, was zu einem großen Problem geworden war, wenn man täglich versuchte 3-4 Liter zu trinken UND täglich mindestens 15 Kilometer lief! Denn so musste ich wirklich ständig auf die Toilette.
Als wir daheim ankamen entleerte ich meine Blase so schnell wie möglich. Anschließend schnappte ich mir das vorbereitete Packet und lief direkt wieder los, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich VIEL zu wenige Kilometer geschafft. Das war auch der Grund, warum ich extra einen Umweg machte, bevor ich bei der Post ankam. Dort gab ich das Packet ab, bezahlte und lief den selben Umweg zurück. Allerdings machte ich kurz bei der Apotheke halt. Man weiß ja nie, was die nächsten Tage so passiert. Und da meine Abführmittel leer waren, kaufte ich mir sicherheitshalber und für den Fall der Fälle eine neue Packung. Diesmal nahm ich mir allerdings vor sie so lange wie möglich unberührt zu lassen. Aber ich brauchte sie, es war immerhin ein leichtes Sicherheitsgefühl, was ich mir von Ana oder eher von meiner Selbstkontrolle erst wieder erarbeiten musste. Und so würde ich in einem Ess-o-Ess-Fall immerhin schnell wieder leer war. Leere. Sauberkeit. Reinheit. Leere. Die körperliche Leere liebte ich um Welten mehr als die psychische Leere. Die Körperliche gab mir das Gefühl von Selbstzerstörung, Disziplin, Kontrolle. All die Erdniedrigungen, die ich jahrelang ertragen musste, konnte ich so auf meinen Körper und meine Bedürfnisse projezieren. Natürlich blieb meine Seele dabei nicht unbeschadet, aber es tat ihr besser als der Selbsthass, der dauerhaft in mir loderte und nur durch Selbstzerstörung/-verletzung etwas gedämmt wurde. 12km
Ich war viel zu wenig gelaufen, vor Allem da es schon 16:20Uhr war. Und da war er, der hungrige Selbsthass, welcher mich zu zerfressen versuchte. Bevor ich mir noch einen Tee erlauben konnte musste ich auf die Waage. 600Gramm mehr als am Morgen. "Verdammtes Miststück, beweg deinen fetten Arsch endlich und werd' dieses Schwabbelfett los!" Dass ich an diesem Tag schon gute 3 Liter getrunken hatte und mit Sicherheit noch nicht alles wieder rausgespühlt war, war für Ana vollkommen irrelevant, für die zählte einzig und alleine die Zahl auf der Waage und diese war wie gewöhnlich zu hoch!
Deshalb durfte ich mich nicht wieder anziehen, sondern musste in Unterwäsche Gymnastik machen. 100 Hampelmänner, 100 Crunches, 50x seitliches Beinheben, 20x normales Beinheben. Mir wurde schwindelig und dennoch tappste ich zurück ins Badezimmer und stellte mich erneut auf die Waage. 5 Mal stellte ich mich hinauf und die Waage sprang jedes mal um 100g hin und her, anscheind war sie sich selbst nicht so sicher. Aber es waren immerhin 100-200g weniger als vor den Übungen. Ich zog mich endlich an, denn nun brauchte ich dringend etwas zu trinken, ich schlang etwas Wasser hinunter und erlaubte mir dann doch noch einen Tee (1 Kalorie). Anschließend schnappte ich mir schnell mein Buch, um ja nicht nachzudenken, und lief in meinem Zimmer auf und ab während ich las. Immer wieder hin und her, im Kreis und wieder auf und ab, Drehung, hin und her. Das Buch lenkte mich ab, ich wurde in eine andere kranke Welt gezogen und konnte meiner eigenen schwarzen Realität immerhin kurzzeitig entkommen. 13,5km
Irgendwann machte ich mich dann nochmals auf den Weg, um Chiara von der Arbeit abzuholen, um zu laufen, um zu rauchen, um die Musik durch meine Kopfhörer aufzudrehen und mich betäuben zu lassen. Ich lief stumm und leer in die Stadt, alles um mich schien wie benebelt, ich nahm es nicht wahr, ich bekam nicht einmal mit wie sich meine Beine bewegten, ich schwebte förmlich über den Boden hinweg, völlig benommen von den Stimmen in meinem Kopf. 15,5km
Wieder daheim kochte ich Chiara etwas Gemüse, danach musste ich meiner Putzarbeit nachgehen, indem ich aufräumte, in meinem Zimmer staubsaugte und die Regale abwischte. Am liebsten hätte ich mein Bett neu bezogen, doch ich versuchte es bei zwei Mal wöchentlich zu belassen und mich nicht wieder zu steigern.
Um 20:00Uhr war ich fertig, nun blieb mir noch eine viertel Stunde Zeit bis wir zusammen etwas im Fernsehen schauen wollte. Diese 15 Minuten nutze ich um noch eine Zigarette auf dem Balkon zu laufen. So schnell wie nur möglich lief ich dabei hin und her und hin und her.
An die Serie konnte ich mich im Nachhinein nicht erinnern, nicht worum es ging, was passierte, ob ich überhaupt wirklich schaute oder ob ich in meiner Traumwelt lebte. Ich wusste nur noch, dass ich zwischendrin für meine kurze Abendrunde mit Sam raus ging, aber auch dabei ist mir nichts sonderlich im Gedächtnis geblieben. 17km
Um 22:30Uhr ging noch kurz eine Rauchen, aber ich war zu müde und zu schwach um dabei Welten tu laufen. Allerdings spürte ich wie unruhig ich innerlich war. 17,54km
Dennoch machte ich mich danach fertig für's Bett und legte mich hin.

invisible - much more than anorexiaDonde viven las historias. Descúbrelo ahora