Gain

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Nachdem ich mich die vegangene Nacht mit migräneartigen Kopfschmerzen in den Schlaf kämpfte erwachte ich am Morgen um 06:30Uhr. In meinem Kopf hämmerte es immernoch dumpf und der pressende Druck an den Schläfen war immer noch nicht ganz abgeklungen, allerdings war es um Welten besser geworden. Ich konnte meine Augen öffnen, ohne dass mir vor Schmerzen die Tränen hinabliefen. Seit einer gefühlten Ewigkeit war ich auf Tablettenentzug und schien immernoch fast irre zu werden. "Lauf' sofort in die Stadt, ICH brauche das jetzt, DU brauchst das jetzt." Wenn es nach Alaska und Ana gingen würde, hätte ich wohl mein gesamtes Monatsgeld für Abführmittel und Schmerztabletten ausgegeben, nur um mich bis zum Anschlag vollzupumpen und mich damit immerhin minimal zerstören.
Doch bevor ich mich irgendwie in Bewegung setzen konnte folgte eine andere Anweisung:" Steig' auf die Waage jetzt! Du hast es gestern schon nicht getan. Du bist ein Verräter und glaub' mir du hast zugenommen, ich sehe das doch. DU NIMMST IMMER ZU, WENN DU EINEN TAG DIE KONTROLLE DER WAAGE NICHT HAST!!!" Als ich mich ins Badezimmer bewegte wurde Ana nur wieder bestätigt, wie immer. +0,7kg. Das KANN nicht sein, mein Intake war in den letzten Tagen nicht übermäßig hoch, aber anscheind gewann mein Körper sofort gegen mich, sobald ich einen Tag die Kontrolle über mein Gewicht abgab. Krampfhaft versuchte ich mir einzureden, dass es Mageninhalt war, was anderes konnte es doch nicht sein. Doch mein rationales Denken wurde sekündlich weiter unterdrückt, bis es irgendwann wie eine schwache Kerze erlosch. "Du bist fett fett fett. Immer lässt du mich im Stich, weil du einfach nichts hinbekommst, weil du einfach unnütz bist. Willst du mich noch mehr zerstören? Noch mehr demütigen? DU weißt doch genau wohin das führt! Mach' nur weiter, du hättest vorgestern schon wissen müssen, dass du zugenommen hast. Erinnerst du dich an die Nacht? Erinnerst du dich wie du um dein Leben gerannt bist? Es wäre passiert, hätte ich nicht rechtzeitig geschrien. Schon wieder. Weil du verdammt nochmal zu dick bist, dick genug für die Männerwelt. Willst du das? Willst du, dass es wieder passiert? Oder willst du immer weiter so schwach und disziplinlos sein, dass jemand anderes die Kontrolle über dich hat? Ich versuche dir zu helfen, merkst du das nicht? Ich versuche dich zu schützen, mich zu schützen. Aber dafür müssen wir verschwinden, Stück für Stück. Verstehst du?" Ihre Stimme war schrill, doch brach bei jedem neuen Satz, bis sie nur noch zitterte vor Angst, vor Wut, vor Verzweiflung und Enttäuschung. Ich selbst bekam Gänsehaut am ganzen Körper bei ihren Worten und mein Herz begann zu rasen.
Ich fühlte mich dreckig, ekelhaft, widerlich. Deshalb stieg ich sofort unter die Dusche, um den Schmutz irgendwie von mir abzuwaschen. 2,3,4 Mal, doch das Gefühl blieb.
Ich zog mich an, band meine Haare zusammen und ging hinab zu meiner Mutter. Dort erläuterte ich ihr, wie starke Kopfschmerzen ich die Nacht hatte und dass ich jetzt endlich Tabletten brauchte. "Scheiß auf die Schmerzen, wir BRAUCHEN diese verdammten Tabletten!!!" brüllte Alaska mir dazwischen. Mama schaute mich an und als sie mir sagte, dass sie gestern Abend noch Schmerztabletten gefunden hatte, wäre ich ihr am liebsten um den Hals gefallen. "Das kann nicht sein. Oh Gott, wie kannst du nur so dumm sein??? Du hast mir geschworen das ganze Haus abgesucht zu haben! Und jetzt? Jetzt findet deine Mutter Schmerztabletten? Willst du mich eigentlich vollkommen verarschen???" Alaska war außer sich und auch ich konnte es nicht verstehen, ich hatte tatsächlich alles abgesucht. Doch jetzt, jetzt wusste ich wo sie waren und konnte es kaum erwarten, dass Mama das Haus verließ.
Da ich wusste, dass das wohl noch etwas dauern würde ging ich noch für einige Kilometer raus. Das Wetter war schön, die Sonne erwärmte mich, endlich mal wieder. Wenn ich nicht gerade Arbeiten musste war das Wetter wirklich angenehm, außer dass mein Kopf absolut keine Sonne vertrug, aber das war ich ja mittlerweile gewohnt. Für 5km lief ich einfach durch die Straßen, durch den Park, hörte Musik und genoss die blühende Natur, beobachtete die fliegenden Pollen. Ich hätte mich eventuell entspannen können, wenn Alaska meine Gedanken nicht derart auf die Tabletten fixiert hätte.
Als ich wieder Heim kam war die Wohnung leer, weshalb ich in die Küche rannte und mir sofort 6 Tabletten aus der Packung holte, oder eher klaute. "Nimm' sie alle auf einmal." Doch ich tat es nicht, ich wollte sie mir einsparen, sie erstmal sammeln, vielleicht brauchte ich sie wann anders dringender. Als ich sie in mein Versteck gebracht hatte rief ich meine Mutter an und verabredete mich mit ihr in der Stadt.
Somit lief ich direkt wieder los, schlenderte mit ihr durch die Läden und probierte ein paar Kleidungsstücke an. Nichts passte, alles ging komisch herunter und ich verfluchte es. Wie konnte ich so dick sein und gleichzeitig nichtmal in eine xxs passen? Ich verstand es einfach nicht und mein rationales Denken war ausgeschaltet. "Scheiß drauf, wenn du eh nicht reinpasst können wir auch gleich noch 10kg abnehmen! Wen interessierts? Scheiß auf die Größen, du siehst dennoch zu dick aus. Im Notfall gibt es Kinderkleidung oder noch besser, wenn alles zu groß ist kann niemand deine Rundungen sehen!" Da ich, bis auf wenige Kosmetikartikel, leer nach Hause ging, war mein Selbstwertgefühl im Keller und ich war dermaßen getriggert, dass ich einfach nur noch schnellstmöglich abnehmen wollte. Abnehmen MUSSTE!
Da Mama noch einkaufen fahren wollte, lief ich den Weg alleine nach Hause. Nichts und niemand hätte mich jetzt ins Auto bekommen können, ich musste mich bewegen, denn irgendwie musste ich dieses Fett ja los werden. Ich verfluchte plötzlich die Sonne und alles um mich rum. Für 5 Minuten hatte ich mein Longsleeve ausgezogen, doch nur im Top fühlte ich mich nackt, hilflos und es lag enger am Bauch, weshalb ich das lockere Langarmshirt doch gleich wieder anzog. Ich wollte mich nicht noch mehr in Gefahr bringen als eh schon, ich wollte nicht noch mehr angestarrt werden und ich wollte mich nicht noch massiger fühlen.
Als ich zuhause ankam trank ich erstmal 2 Gläser Wasser auf einmal, damit ich immerhin irgendwie auf eine akzeptable Literzahl kam. Danach begann ich meine Wäsche zu waschen und die gewaschene Kleidung meiner Eltern im Garten aufzuhängen. Noch kurz versuchte ich mit Sam etwas Ball zu spielen, doch ihr war sichtlich zu warm, weshalb ich entschied es wieder auf den Abend zu verschieben.
Als ich dann in mein Zimmer ging packte mich das dunkle Loch, ich las alte Briefe und lief wie in einem Käfig auf und ab. Ich hasste und liebte schöne Erinnerungen, sie taten zu sehr weh, um sie zu ertragen, doch vergessen wollte ich sie auch nicht. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, riss mich zusammen und ging erneut hinaus. Es war 13:00Uhr und ich war schon bei 10km, damit war mir klar, dass ich den Mindestwert von 15km ohne Schwierigkeiten erreichen würde, allerdings war Ana vom Vortag stark getriggert, da ich da etwa 20km gelaufen war. "Heute muss es mehr sein, hörst du? Bitte... es muss, du musst! Du musst abnehmen! Ich ertrage dich so nicht, also sei verdammt nochmal nicht so faul, gierig und egoistisch, denn ich muss es ebenso in deinem Körper aushalten!" Obwohl ich es hasste, wenn sie mich so unter Druck setzte, fand ich es nicht sonderlich schlimm, denn das Wetter war wirklich wunderbar und bei 24Grad im Schatten fror ich immerhin mal nicht solange ich mich im Sonnenschein befand. Nur sobald der Wind aufkam wurde mein Körper von einer Gänsehaut überseht, manchmal erinnerte mich diese Wärmeschwankung etwas an Wechselduschen, weshalb ich es gar nicht mehr so schlecht fand.
Im Park lief ich blind meine Runden, immer in der Form eine Acht, ich lief und lief. Es war nur ein Park von vielen, aber nur hier fühlte ich mich tagsüber halbwegs sicher, er lag nicht direkt in der Stadt, weshalb er nie überfüllt war, gleichzeitig war er übersichtlich, die Bäume so hoch, dass ich den Park überblicken konnte. Das gab mir auf irgendeine Art und Weise Sicherheit und die Kontrolle, die ich so sehr brauchte.
Mit 13km kam ich wieder Heim, holte auf dem Rückweg noch meinen Bruder vom Bahnhof ab, um den restlichen Weg mit ihm gemeinsam zu gehen. Während meine Familie Mittag aß trank ich 3 Gläser Wasser, unterhielt mich etwas mit Mama. Allerdings war ich unkonzentriert und mit meinen Gedanken schon wieder am Laufen. Weshalb ich im Anschluss schnell neue Wäsche wusch und im Garten aufhing, und direkt wieder in die sichere Zone des Parks ging. Mein Bewegungsdrang war stark und Ana zu laut, durch die Zunahme verlangte sie so viel von mir und da ich eigentlich noch meine Studienarbeit schreiben musste, hatte ich keine Sekunde Zeit einfach sinnlos rumzusitzen. Bis 16:00Uhr wollte ich so viele Kilometer wie möglich gelaufen sein, damit ich mich dann immerhin mit halber Konzentration an die Arbeit setzen zu könne. Runde für Runde lief ich, versuchte alles und jeden um mich herum zu ignorieren und mich einzig und alleine aufs Laufen zu fixieren.
Als ich pünktlich um 16:00Uhr im Garten mit meinen Studienunterlagen am Tisch saß war ich 18km gelaufen, meine Füße schmerzten und waren heilfroh, dass sie jetzt einige Zeit Pause hatten. Meine Konzentration hielt sich allerdings in Grenzen und als ich dann noch das Kapitel über Süchte bearbeiten musste, worunter eindeutig auch Medikamentenmissbrauch fiel, konnte Alaska nicht mehr an sich halten, weshalb meine Gedanken ständig zu den Tabletten abschweiften, die in meinem Zimmer versteckt lagen. Ich hatte das Gefühl durchzudrehen, denn obwohl es mir an diesem Tag nicht sonderlich schlecht ging, war ich dermaßen auf all meine Süchte gedrillt, dass ich vollkommen unruhig wurde. Ana und Alaska tobten sich aus und ich lauschte wie gebannt ihren Worten: "Tabletten, Rauchen, Kiffen, Schneiden, Kratzen, Schlagen.", "Laufen, Hungergefühl, Bauchschmerzen, Leere, Magenknurren". Ich hätte mich am liebsten fallen lassen, alles geschehen lassen, alles gespürt, doch nein. Ich musste lernen, den Themenbereich durcharbeiten, doch gedanklich war ich nicht bei der Sache. Immerhin konnte ich während des Lernens einen Zero Eistee mit 7 Kalorien trinken. Um 18:00Uhr war ich fertig, mehr oder weniger, brachte meine Sachen ins Haus und ging direkt wieder spazieren. "25km hörst du? Keinen Schritt weniger! Du hast versagt, hast zugenommen, bist faul. Beweg' dich! Ich lasse dich nicht eher in Ruhe. Lauf!" und ich lief, wieder direkt in den Park, Runde für Runde. Ich lief und lief, als ich irgendwann auf meinen Schrittzähler blickte war ich bei 25,4km und damit schon über meinem Sollwert für den Tag, doch ich war noch im Park. Als ich daheim ankam war ich bei 26,1km und ich konnte nicht aufhören. "Lauf' weiter! Und du musst später nochmal raus. Du hast versprochen, dass du um 22Uhr nochmal raus gehst!" Ich hatte es doch nur versprochen, weil ich dachte ich schaffe die 25km nicht vor 20Uhr. "Das ist mir egal! Du hast gesagt du gehst raus und jetzt kannst du auch die 30km voll machen. So halbe Sachen sind Schwachsinn. Lauf' bis 30 und dann ist gut."
Um 19:30Uhr begann ich noch schnell meinen Haushaltspflichten nachzugehen, ich hing die Wäsche ab, sortierte sie ein, räumte mein Zimmer auf und saugte meine gesamte Etage.
Eigentlich wollte ich mich von 20-22Uhr etwas ausruhen, Fernsehen schauen und meine Studienarbeit schreiben, allerdings beherrschte mich eine innere Unruhe, geschrieben bekam ich nichts und auch vom Fernseher konnte ich nichts wirklich aufnehmen. Das Einzige, wozu ich in der Lage war, war ein Redbull Zero (4) zu trinken, um anschließend wieder Energie zum Laufen zu haben. Um 21:15 hielt ich es nicht mehr aus, stieg unter die Dusche und wusch meinen Körper zwei Mal komplett ab, in der Hoffnung mich besser zu fühlen, denn das Schmutzgefühl hatte sich wieder bis in meine Knochen gefressen, doch es änderte sich nichts. Ich zog mir frische Kleidung an und ging hinaus in die Nacht, immerhin warteten noch 3km auf mich, die ich zu laufen hatte. Als ich den Park in der Dunkelheit und nur bei Laternenschein erreicht hatte, verlor ich selbst mein Bewusstsein und Ana trat, zum ersten Mal soweit ich das mitbekommen hatte, an die Front. Mit einem Schock, Herzrasen und Panik fand ich mich in der dunkelsten Ecke des Parks wieder, verwirrt über den schnellen Persönlichkeitswechsel und etwas neben der Spur. Mein Herz hämmerte mit einer derartigen Wucht gegen meine Rippen, dass ich das Gefühl hatte mein gesamter Brustkorb würde jeden Augenblick zerspringen. Als ich auf die Uhr schaute, sah ich, dass sie nur wenige Minuten die vollkommende Kontrolle hatte und als nächstes musste ich feststellen, dass sie ihre Anwesendheit auch vor wem Anders gezeigt hatte, denn die neuen Nachrichten bei Whatsapp waren mir bis dato unbekannt. Schockiert und fasziniert konnte ich mich dennoch relativ schnell wieder fangen und irgendwie damit umgehen. Und obwohl Ana in mir unglaubliche Panik entfachte und bei jeder mir entgegen kommenden Gestalt erschrack, konnte und durfte ich nicht aufhören zu laufen, ich war wie im Bann, vollkommen gefangen in dem Drang, in der Sucht, auch dann, als ich die 30km erreicht hatte. Allerdings verließ ich den Park, der einsam, verlassen und gruselig wurde, um liefer die Straße vor meinem Haus auf und ab zu laufen. Irgendwann begannen meine Beine derart zu verkrampfen, dass ich auf meinen Schrittzähler schaute und mich mit 35 gelaufenen Kilometern tatsächlich ins Haus traute. Dort stieg ich ängstlich auf die Waage, welche mir immerhin 300g wenige anzeigte als am Morgen. "Zu viel, zu viel, zu viel. Es ist immer noch zu viel." Ana klang so verzweifelt, dass es mir wirklich leid tat, aber was sollte ich denn noch tun? Ich stieg unter die Dusche, da das dreckige Gefühl nicht erloschen war und ging anschließend in mein Zimmer, um das geplante Outfit für den kommenden Tag bereit zu legen und schon das für die folgende Woche zu planen. Dann traute ich mich, endlich, mich ins Bett zu legen.
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10.05.2016
35,17km

invisible - much more than anorexiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt