Neue Augen

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Ich öffne die Augen und atme tief durch. Der Schmerz trifft mich nur Augenblicke später, doch ist er nicht mehr so stark wie gestern.
Elrond ist weg, ich bin alleine im Zimmer.
Langsam stehe ich auf und gehe vorsichtig zum Fenster, dann raus auf den Balkon, der an mein Zimmer grenzt. Ich habe anscheinend lange geschlafen, denn es ist bereits der nächste Tag. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch denke ich an meinen Traum zurück und überlege, wer das wohl gewesen sein könnte. Doch schließlich tue ich es mit einem Schulterzucken ab und gehe wieder nach drinnen.
Dort wende ich mich sofort zu Badezimmer, denn ich möchte mich waschen. Doch was ich im Spiegel sehe, kann unmöglich ich sein. Kalte, blaue Augen starren aus einem schmalen, blassen Gesicht mit hohen Wangenknochen und eingefallenen Wangen heraus und die ehemals braunen, glatten Haare sind wirr, zerzaust und haben ihren Glanz verloren. Ein Schauer läuft mir über den Rücken und ich schlucke. Meine Augen waren immer schon eisblau, aber nie so kalt. Sie hatten immer eine gewisse Wärme, doch diese ist nun fort. Während ich im Inneren vor Trauer fast zusammenbreche, ist mir äußerlich nichts anzumerken. Meine Lippen sind zu einem dünnen Strich zusammengepresst und ich schaue ungewöhnlich ernst. 'Das meinte Elrond also mit diesen Augen.' Ich beginne mich zu säubern, dann nehme ich eine Bürste und bringe meine Haare wieder einigermaßen in Ordnung. Danach sehe ich nur bedingt besser aus, aber immerhin nicht mehr ganz so gruselig. Der kalte Blick lässt sich allerdings durch nichts verscheuchen.
Nach einem tiefen Atemzug gehe ich in mein Zimmer zurück und ziehe mich um. Dann trete ich kurzerhand auf den Gang hinaus und laufe zum Speisesaal. Obwohl ich keinen Hunger verspüre weiß ich, dass mein Körper etwas Nahrung braucht. Also eile ich mit schnellen Schritten durch die Gänge und versuche die Elben, denen ich begegne, zu ignorieren. Einige starren mich erschrocken an, andere schauen mitfühlend, aber niemand versucht mit mir zu sprechen. Dafür bin ich ihnen dankbar.
Im Speisesaal setze ich mich alleine an ein Ende des Tisches, weg von ein paar anderen Elben, die mich verwundert anschauen und dann miteinander tuscheln. Ich ignoriere sie so gut es geht, nehme mir etwas zu Essen und verspeise es ohne besondere Motivation oder Begeisterung. Aber als ich fertig bin, merke ich, dass mein Körper das gebraucht hat, denn ich fühle mich gleich ein wenig besser. Zwar lindert es nicht den Schmerz in mir, aber es gibt mir Kraft, diesen Tag zu überstehen.
"Jedwiga?", fragt plötzlich eine Stimme vorsichtig hinter mir und ich drehe mich um. Arwen steht dort, und als sie mich sieht, weiten sich ihre Augen vor Schreck.
"Du siehst furchtbar aus", meint sie und ich nicke.
"Ich weiß."
"Bei den Valar, es tut mir so unendlich leid was dir widerfahren ist. Wirklich."
Sie setzt sich neben mich und legt einen Arm um mich. Ich seufze leise und lege meine Hand auf ihre.
"Danke, Arwen."
"Wenn es irgendetwas gibt was ich tun kann um dir zu helfen, dann sag einfach Bescheid, in Ordnung?"
Ich nicke erneut und Arwen lächelt.
"Dann komm. Lass uns nach draußen gehen, du brauchst dringend frische Luft."
Sie erhebt sich und zieht mich ebenfalls auf die Füße. Protestlos lasse ich mich von ihr aus dem Speisesaal auf einen wunderschönen Innenhof führen. Ich bemerke, dass mir momentan fast alles egal ist und man mich zu allem bewegen könnte, wenn das jemand versuchen würde. Meine Seele, mein Herz und meine Gefühle sind wie eingefroren, nicht nur meine Augen. Ich strahle eine Art der Kälte aus, die die meisten Elben abschreckt. Doch nicht Arwen. Sie zieht mich in den Wald hinein und läuft mit mir auf Pfaden entlang um mir alles zu zeigen. Dabei redet sie in einem fort und ich höre ihr zu, unfähig selbst etwas beizusteuern. Aber Arwen bemerkt das.
"Ach komm schon Jedwiga! Du kannst nicht immer nur nebenher laufen und schweigen. Das macht keinen Spaß."
"Spaß?", gebe ich zurück.
"Wie kann mir irgendetwas Spaß machen? Ich habe meine Familie verloren, Arwen. Meine ganze Familie! Und ich habe sie, seit ich von ihnen fortgegangen bin, nicht einmal besucht!"
Meine Stimme gerät ins Stocken und meine Augen füllen sich mit Tränen. Arwen legt mir sofort einen Arm um die Schultern und zieht mich zu sich.
"Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ich bin eine Idiotin."
"Ja das bist du", schniefe ich, doch dann weine ich weiter. Arwen nimmt mich richtig in den Arm und wiegt mich sanft vor und zurück. Sanft streicht sie mir über die Haare und flüstert beruhigende Worte in mein Ohr. Doch dieses Verhalten erinnert mich so sehr an Angathel, dass der Schmerz noch stärker in mir brennt.
"Du hast noch uns", meint Arwen schließlich, dann lässt sie mich los, nimmt meine Hand und geht mit mir weiter. Die Tränen versiegen irgendwann und ich beruhige mich wieder. 'So viele Tränen, wie ich bisher geweint habe, würden einen kleinen Teich füllen können.' Nach einer Weile gelangen wir wieder zu den Häusern und Arwen bringt mich zur Bibliothek, nachdem ich sie darum gebeten habe. Ich habe vor, mich mit der Aufnahme von Wissen von meiner Trauer abzulenken. Arwen scheint das für keine so gute Idee zu halten, bringt mich aber wortlos hin. Aber bevor sie geht, nimmt sie beide meine Hände in ihre und schaut mich ernst an.
"Du kannst die Trauer nicht ersticken. Du musst lernen mit ihr zu leben, und da helfen dir keine Bücher."
Ich nicke, mache aber keine Anstalten meine Entscheidung zu ändern. Sie seufzt.
"Aber du lässt dich nicht davon abbringen, ich sehe schon. Na dann, bis heute Abend."
Sie hebt die Hand zum Abschied und geht dann den Gang weiter. Ich betrete die Bibliothek und sofort umfängt mich der schwere Geruch von Büchern, Papier und Leder. Ein Bibliothekar kommt auf mich zu, wenn er auch zusammenzuckt beim Blick meiner Augen.
"Wie kann ich euch helfen, Frau Jedwiga?"
"Ich hätte gerne Bücher über die Geschichte von Mittelerde", bestimme ich und der Bibliothekar nickt.
"Folgt mir bitte."
Er bringt mich zu einem hohen Regal, gibt mir einige Bücher und lässt mich dann alleine. Und so beginne ich meine Studien. Mehrere Stunden lang sitze ich da an einem Tisch, eine Lampe neben mir, vergraben in Büchern und verschlinge die Werke über Mittelerde mit einem mir beinahe fremden Wissensdurst. Bis ich unterbrochen werde, und zwar von niemand geringerem als Elrond.
"Jedwiga! Was machst du denn hier?"
Erschrocken hebe ich den Kopf und schaue ihn an. Sein Blick ist einerseits belustigt, andererseits auch besorgt.
"Ich lese", antworte ich und blinzele.
"Das sehe ich. Aber es gibt gleich Abendessen, und du solltest etwas essen."
Er tritt auf mich zu, schließt das Buch, welches ich gerade lese, und nimmt meine Hand.
"Komm, lass uns gehen."
Widerstandslos folge ich ihm in den Speisesaal und lasse mich neben ihm an der Tafel nieder. Mit aufmerksamen Blick stellt er sicher, dass ich mir etwas zu Essen nehme und es auch esse. Erst nach 20 Minuten spricht er zu mir.
"Arwen hat mir erzählt, dass du unbedingt lesen wolltest."
Ich nicke.
"Ja, ich wollte mich ablenken."
"Ich kann das verstehen, aber das ist nicht gut auf die Dauer. Du musst lernen damit zu leben."
Ich seufze.
"Warum sagt ihr mir das alle?"
"Weil ich jemanden kenne, dem es ganz ähnlich ergangen ist. Allerdings verlor er nur seine Frau, nicht seine ganze Familie. Er wurde kalt und herzlos, seine Augen zeigen auch heute, Jahrhunderte nach ihrem Tod, keine Gefühle. Nur sein Sohn hat ihn davor bewahrt, ihr vor Trauer und Schmerz zu folgen. In deinem Fall sind Arwen und ich das. Ich lasse es nicht zu, dass du so endest wie er."
Sein Blick wird ernst und er mustert mich prüfend.
"Wie heißt dieser Elb?", frage ich, da etwas bei mir läutet.
"Sein Name ist Thranduil, er ist der König des Waldlandreiches im Grünwald. Vielleicht wirst du ihn eines Tages kennenlernen."
"Hm", mache ich und esse weiter.
"Du solltest dein Training erst wieder aufnehmen, wenn es dir besser geht", meint Elrond dann und ich schlucke. 'Aha, aber so schnell wird es mir nicht besser gehen.'
Nach dem Essen begebe ich mich wieder in mein Zimmer, nachdem ich meinem Vater eine gute Nacht gewünscht habe. Dort falle ich müde in mein Bett und schlafe nur Sekunden später in einen tiefen Schlaf.

 

Die Geschichte von JedwigaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt