Kapitel 6

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Die Erdbeerfelder

Es waren ein paar ereignislose Tage vergangen, seitdem Charlotte mir von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Erst jetzt im Nachhinein verstand ich, warum sie mir so viel von sich preisgegeben hatte. Da es uns nicht gestattet war, miteinander zu reden, nutzte man jede noch so kleine Gelegenheit für Kommunikation mit anderen Menschen. Nachdem Charlotte mir so viel von ihrer Vergangenheit erzählt hatte, hatte ich das dringende Bedürfnis mit ihr über mein Aufnahmeritual zu sprechen. Es tat gut darüber zu sprechen, die Angst mit jemandem zu teilen, der einen verstehen konnte.

Die Stille trieb einen in den Wahnsinn.

Ich hatte ihre Worte noch immer nicht ganz verdauen können. Ich dachte, meine Geschichte sei schlimm, doch im Vergleich zu Charlottes war sie ein Spaziergang an einem sonnigen Tag. Ich konnte nicht verstehen, woher sie die Kraft nahm, weiterzumachen.

Das Frühstück verlief, genauso wie das Abendessen an den vergangenen Tagen, ohne Zwischenfälle. Zuerst sagten die Mädchen den kleinen Spruch auf, ich konnte ihn mittlerweile auswendig. Was mir am Anfang unheimlich vorkam, war heute schon fast Alltag. Ich weigerte mich dennoch die Verse aufzusagen. Die Mädchen neben mir wirkten diesbezüglich etwas unsicher und sahen mich vorwurfsvoll an.

Ich merkte, wie sie mich von der Seite musterten, doch ich ignorierte sie. Ein Beobachter sah, dass ich nicht mitsprach. Er ging zu einem anderen hinüber und redete mir ihm. Aufmerksam behielt ich die beiden im Blick, bereit zu reagieren, sollten sie auf mich zukommen. Meine Vermutung blieb jedoch unbestätigt. Sie blickten mich einmal kurz an und nahmen ihre ursprünglichen Posten wieder ein.

Ich fragte mich, warum sie nichts unternommen hatten. Aber vielleicht hatte ich im Moment so etwas wie eine Schonfrist. Wussten sie, was mir widerfahren war? Mit ziemlicher Sicherheit waren all diese Männer im Bilde.

Es gab ein Mädchen, das ich im Blick behielt, um mir weiteren, unnötigen Ärger zu ersparen. Margarete sah mich von ihrem Platz aus finster an. Ich wusste nicht, was ihr Problem war. Am besten war es, wenn ich versuchte ihr aus dem Weg zu gehen.

Tagelang kam ich nur aus meinem Zimmer, um zu essen oder mich frisch zu machen. Stephan sah ich die ganze Zeit nicht einmal. War er überhaupt noch auf dieser Insel? Die Zeit verging sehr schleppend. Mehrmals stellte ich mir die Frage, ob man vor Langeweile sterben konnte.

Ich ging davon aus, dass dieser Tag wie die anderen verlaufen würde, doch dem war nicht so. Als ich vom Frühstück zurück in mein Zimmer kam, saß Stephan auf meinem Bett. Er wirkte unsicher, fast ängstlich. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ein paarmal musste ich tief ein- und ausatmen, um mich aus meiner Starre zu lösen. Was wollte er hier? War er hier, um mich erneut zu vergewaltigen? Wie auf Kommando setzte der Schmerz in meinem Unterleib wieder ein. Ich unterdrückte diesen, um einen klaren Kopf zu behalten.

>> Was machst du hier? <<, giftete ich ihn an. Ich sprach mit zusammengebissenen Zähnen.

>> Ich habe die Aufgabe bekommen, dir das Außengelände zu zeigen. Ich bin immer noch dein Aufpasser. <<

Stephan sah mir nicht in die Augen, es schien fast, als würde er seine Tat bereuen, doch das machte sie nicht ungeschehen und noch lange nicht vergessen.

>> Aufpasser, dass ich nicht lache. <<

Ich hingegen fixierte ihn mit meinem Blick, ließ ihn keine einzelne Sekunde aus den Augen. Wie sollte ich reagieren? Meine Angst lähmte mich beinahe vollständig.

>> Wieso haben sie ausgerechnet dich geschickt? Du bist der letzte Mensch, den ich sehen möchte! <<, brüllte ich ihn an.

>> Johanna es tut mir leid, aber ich muss meinen Pflichten, wie jeder andere auch, erfüllen. Sie konnten niemand anderen schicken. <<

Die Insel der stillen TränenWhere stories live. Discover now